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Archiv-Artikel

„Kein Verzeihen, kein Vergessen“

BUCH Ulrike Heider hat mit „Vögeln ist schön“ eine zornige Schrift wider die Verklemmtheit geschrieben – und darüber, warum das Versprechen freier Liebe noch uneingelöst ist

Ulrike Heider

■ Die Autorin: 67, studierte Politik und Germanistik und promovierte in Frankfurt/Main. In ihren Texten beschäftigt sich die Schriftstellerin und Journalistin immer wieder mit Sexualität, Pornografie und verschiedenen Protestformen.

■ Das Buch: „Vögeln ist schön“ beschreibt die Wandlungen des Sexuellen in unserer Gesellschaft – von den Fünfzigern bis heute. Heider kommt zu dem Schluss: Sexualität sei mittlerweile so hart wie der Rest des Lebens auch.

GESPRÄCH JAN FEDDERSEN FOTO LIA DARJES

taz: Frau Heider, „Vögeln ist schön“ klingt als Buchtitel wie eine trotzige Behauptung – heute erscheint zu Sexuellem eher Literatur, die Probleme verhandelt. Deuten Sie das auch so?

Ulrike Heider: Der Titel ist ein Zitat von 1968. Es hat mir so gut gefallen, weil es sich von der heute in der Tat meist negativen Thematisierung von Sexualität abhebt.

Haben Sie also einen Ratgeber geschrieben?

Nein, es geht in meinem Buch nicht darum, wie Vögeln ist oder sein sollte, oder wie die Leute vögeln, sondern darum, was sie dazu im Kopf haben. Es ist eine sexualpolitische Diskursgeschichte von den Fünfzigern bis heute.

Was meinen Sie mit dem Titel denn genau?

„Vögeln ist schön“ stand 1968 als Graffito an einem Schulhaus in der hessischen Provinz. Es stand da nur eine halbe Stunde, weil der Schuldirektor gleich die Maler holen ließ, um es überpinseln zu lassen. Die Lokalpresse berichtete von einer „nicht wiederzugebenden unflätigen Bemerkung“. Angefangen hatte alles damit, dass die Schüler des örtlichen Gymnasiums einen sachlichen Sexualkundeunterricht forderten. Keiner reagierte darauf, bis sie auch Forderungen nach Informationen über luststeigernde Sexualpraxen erhoben.

Das muss damals pure Provokation gewesen sein.

Ja, das war es. Außerdem veröffentlichten die Jugendlichen in ihrer Schülerzeitschrift erotische Verse aus der Bibel.

Pfiffig – die Bibel gegen den Strich gelesen, oder?

Die Schüler zitierten aus dem Hohelied Salomons und provozierten dazu noch mit Zitaten aus Schüttelreimen, mit denen sie versuchten, sich selbst aufzuklären. Also: „In der Nacht, in der Nacht, wenn der Büstenhalter kracht, wenn der Bauch explodiert, kommt das Kind herausmarschiert.“ Die Zeitung wurde daraufhin konfisziert und mehrere Schüler wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften angezeigt.

Und hatte das Folgen?

Diejenigen, die „Vögeln ist schön“ ans Schulhaus und „Vögeln statt Turnen“ an die Turnhalle schrieben, wurden zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt.

Was waren das bloß für Jahre …

Was Sexualität anging, war der größere Teil der sechziger Jahre nicht besser als die fünfziger. Ich erinnere mich, dass ich als Zwölfjährige mit einer Freundin darüber spekulierte, aus welcher weiblichen Körperöffnung die Babys kommen. Es gab niemanden, den wir hätten fragen können. Schlimm war auch die strikte Geschlechtertrennung. In der Schule spielten und sprachen Mädchen und Jungen nicht mit einander. Zu meinen Geburtstagen wurden nur Mädchen eingeladen. Mit dem Mitschüler, in den ich zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr verliebt war, und der dies erwiderte, sprach ich zum ersten Mal, als wir uns durch einen Zufall im Alter von Mitte 30 wiedersahen. Später in der Oberstufe bestimmte eine quälende erotische Spannung jeglichen Umgang mit dem anderen Geschlecht.

Aber das Ende der sechziger Jahre, das wissen wir doch, fiel schon libertärer aus, oder?

Das war eine gute Zeit, weil ich das Glück hatte, Anschluss an die Studentenbewegung zu finden.

Ihre Eltern beschreiben Sie in Ihrem Buch als liberal, modern, zeitgenössisch. Nur beim Thema Sex hörte der Spaß auf. Wie und warum?

Meine Eltern waren weder Reaktionäre noch einstige Nazis oder typische Spießer. Ganz im Gegenteil, sie sympathisierten mit der Friedensbewegung und lasen avantgardistische Literatur. Sie umgaben sich mit Künstlern und Schauspielern und hatten sogar schwule Freunde. Meine Mutter war eine elegante und sinnlich wirkende Frau. Als sie aber 1967 erfuhr, dass ich mit immerhin 20 Jahren mit meinem ersten Freund geschlafen hatte, nannte sie mich eine Hure. Das war sehr typisch für die damalige Zeit.

Sie schreiben von einer „Sexrevolte“, die damals stattgefunden habe – gegen wen denn bloß: Auch etwa gegen die Liberalen wie Ihre Eltern?

Sexrevolte nannte man vor allem das, was sich an Schulen wie der bereits genannten abspielte. Es war eine Revolte gegen ein Schulsystem, das sexuelle Aufklärung verweigerte. Ein Aufstand auch gegen kirchliche und staatliche Sittenwächter, die mit Jugendschutzgesetzen und Zensurmaßnahmen die Unschuld der Kinder und die Jungfräulichkeit der Mädchen hüten wollten. Der Widerstand gegen all das gehörte zur sexuellen Revolution, wie sie von linksradikalen Schülern, Studenten und Lehrlingen verstanden wurde.

Weshalb hat das Sexuelle als Glücksverheißung nicht gehalten, was es versprach?

Die sexuelle Revolution in ihrem radikalen Sinn hat ebenso wenig stattgefunden wie die Sozialrevolution, mit der sie sich hätte verbinden sollen. Die auf Wilhelm Reichs Rousseau’sches Weltbild zurückgehende Vorstellung, dass ein sexuell freier Mensch notwendig ein aufrechter, nicht autoritärer Charakter und damit auch ein potenzieller Revolutionär und nicht zuletzt ein glücklicher Mensch sein müsse, führte oft zur naiven Überschätzung von Sexualität. „Make Love Not War“ war ein zweischneidiges Schwert, ebenso human wie illusionär.

Sie schreiben über eine Vergewaltigung, die Sie selbst erleben mussten. Und darüber, wie Sie Ihren Aggressor auf sehr spezielle Weise in Schach halten konnten. Was ist genau passiert?

Das war 1970. Ich wohnte in einem linksradikal geprägten Studentenwohnheim. Als ich einmal spät allein nach Hause kam, drängte sich hinter mir ein Mann in den Flur und legte mir die Hände um den Hals. Offensichtlich wollte er mich in eine Ecke drängen und vergewaltigen. Ich konnte ihn ganz kurz im Profil sehen. Ein junger Mensch, der wie ein Spießer aussah, weder besonders hässlich noch brutal. Statt panisch zu reagieren, gelang es mir, ganz schnell nachzudenken.

Die klassische Frage: Warum haben Sie nicht geschrien?

Es hätte mich keiner gehört. Das Einzige, was ich tun konnte, war mit dem Angreifer zu sprechen. Dieser Spießer, dachte ich mir, meint, dass die Frauen aus dem linken Studentenheim alle Nutten sind. Wenn ich ihn davon abbringen kann, wird er mich in Ruhe lassen. Ich sagte also: „Sie müssen als Kind etwas Furchtbares erlebt haben, sonst hätten sie eine Freundin und würden nicht so was machen.“ Und dann log ich und sagte: „Ich hab auch Schreckliches erlebt, und wenn sie mir was antun, dann bring ich mich um.“

Und der Mann?

Wollte dann wissen, was ich erlebt hätte. Ich behauptete, dass das so schlimm war, dass ich nicht darüber sprechen könnte und wiederholte meine Selbstmorddrohung. Das ging so eine Weile hin und her, bis der Kerl fast höflich fragte: „Darf ich dich wenigstes anspritzen?“ Ich spielte meine Rolle weiter und sagte: „Nein, sogar das wäre so schlimm für mich, dass ich mir etwas antun würde.“ Danach war es dem Möchtegernvergewaltiger offenbar vergangen. Er ließ mich los und lief weg.

Haben Sie danach versucht, den Mann zu finden?

Ich nicht, aber ein Freund von mir. Er wollte mit ihm reden, um herauszufinden, was einen Menschen zum Vergewaltiger macht.

Sie beklagen, dass bestimmte sexuelle Liberalisierungen in Libertinagen versandeten und den aufmüpfigen Kern der Sexrevolte missachteten. Können Sie uns das genauer erklären?

In den achtziger Jahren, zur Zeit der ersten ökonomischen Krisen und Helmut Kohls Ausrufung der geistig moralischen Wende, kam es unter einstigen Linken zu einem Paradigmenwechsel. Es entstand ein Bild von Sexualität, das sich gegen die Grundsätze der sexuellen Revolution, gegen Freiheit, Gleichheit, Offenheit, und Aufklärung richtete. Michel Foucaults und Georges Batailles These vom luststiftenden Sexualverbot und das nietzscheanische Dogma, dass es keine Sexualität ohne Macht und Machtausübung geben könne, führten schließlich zur Absage an Friedfertigkeit und Partnerschaftlichkeit in Liebesbeziehungen und Sexualbegegnungen.

Es war auch in der alternativen Szene die große Zeit der Renaissance von SM-Sexformen.

Es war eine Zeit, die zur Ideologisierung und Idealisierung von Pornografie und Sadomasochismus führte, weg vom sexuellen Hedonismus der Neuen Linken, hin zu einem Libertinismus in der Tradition von Marquis de Sade.

Was ist heutzutage das Sexuelle – ein Gespinst aus Verdächtigungen und Ängsten?

Falls Sie auf die hysterische Angst vor sexuellem Kindesmissbrauch anspielen: Die furchtbaren Enthüllungen an Klosterschulen und Internaten haben meinem Urteil nach zu Überreaktionen geführt, die jede Zärtlichkeit zwischen Erwachsenen und Kindern unter Missbrauchsverdacht stellen. Dazu kommt, dass das gängige Bild von Sexualität, wie es in den Medien und in der Pornografie vermittelt wird, inzwischen so negativ ist, dass man wenigstens die Kinder davor bewahren will, und zwar um jeden Preis.

Neulich in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ stand wieder zu lesen, die Achtundsechziger trügen für die Auflösung der sexuellen Ordnungen Verantwortung. Haben die Achtundsechziger nicht tatsächlich viele Kinder mit dem Bade ausgeschüttet – wenn man sich die Pädophilie-Debatte anschaut oder überhaupt all die Libertinagen, die in erster Linie Männer begünstigten?

Es gibt Gründe für eine zum Teil falsche Toleranz gegenüber Pädophilie in der 68er-Zeit. Da war erstens eine Gegenreaktion zur Dämonisierung von Kinderschändern in den Fünfzigern. Zweitens die Rehabilitierung der von den Nazis verbannten Psychoanalyse, mit der eine positive Einstellung zur Sexualität einherging. Drittens eine veränderte Vorstellung vom Kind als einem urteilsfähigen, selbstständigen Wesen. Und viertens die Rehabilitierung der Homosexuellen zu einer Zeit, als sie noch generell als Päderasten und Knabenverführer wahrgenommen wurden. All das muss man im historischen Zusammenhang sehen und diskutieren.

Achtundsechzig und das Sexuelle – letztlich war es doch hauptsächlich ein Männerding, oder?

Was diesen Vorwurf angeht, so muss ich sagen: Ich habe diese Zeit anders erlebt. Frauen erklärten die freie Liebe zum Frauenrecht und verhielten sich entsprechend. Links engagierte Männer waren weniger sexistisch und machohaft als konservative oder liberale, weil man sie am eigenen Anspruch messen konnte.

Wie schätzen Sie das ein: Leben wir heute in Zeiten der modernen Prüderie, werden wir immer körperloser, furchtsamer, lustloser?

Das kann ich nicht beantworten, weil ich keine Sexualforscherin bin.

Könnte eine solche sexuelle Zurückhaltung nicht auch damit zu tun haben, dass all das sexuelle Erörtern bei vielen zu Stress und Versagensängsten geführt haben?

Das klingt ein bisschen wie die aus Foucaults These der übergroßen Diskursivierung der Sexualität abgeleitete Behauptung, dass ein angebliches „Zerreden“ der Lust geschadet hätte. Ich halte das für einen Irrtum.

Okay, aber warum erleben wir momentan eine Mixtur aus sexueller Ermüdung, Überforderung – und zugleich einer starken Pornografisierung?

Mit Übermüdung und Überforderung generell sind wir in einer Gesellschaft geschlagen, die uns immer mehr Leistung abverlangt und uns immer rettungsloser in Konkurrenz zu den Mitmenschen stellt, also auch in sexueller Hinsicht. Die zeitgenössische Pornografie halte ich für einen Ausdruck indirekter Sexualunterdrückung. Die Lust wird darin verzerrt dargestellt, als – wie Wilhelm Reich es formulierte – Fratze ihrer selbst. Kein Wunder, dass sich Pornografie neuerdings mit dem neuen Sexualkonservatismus verschränkt. In „50 Shades of Grey“ etwa glänzt das Paar mit konventionellsten Geschlechterrollen und überkommenen Familienwerten.

Was wäre Ihnen eine Utopie – dass Vögeln als Schönes wieder anerkannt wird?

Das wäre eine Gesellschaft, die die nie eingelösten Versprechen der Französischen Revolution zusammen mit den Zielen der libertärsozialistischen Arbeiterbewegung verwirklicht hätte. Kultur und Sexualkultur einer solchen Gesellschaft würden sich qualitativ von der gegebenen unterscheiden.

Das klingt jetzt asexualisierend. Französische Aufklärung schön und gut: Was wäre eine Utopie der guten Gesellschaft im Hinblick auf das Sexuelle?

Anders als die Anhänger des Libertanismus halte ich Freiheit von Verboten und Gleichheit der Partner für Voraussetzungen befriedigender Sexualität. In einer von sozialen Hierarchien, Marktkonkurrenz und Geschlechterpolarismus befreiten Gesellschaft könnte eine solche Sexualität gedeihen. Im Hier und Jetzt müssen wir uns mit bescheidenen Vorwegnahmen davon begnügen.

Letzte Frage: Haben Sie Ihrer Mutter verzeihen können, dass sie Sie als Hure beschimpft hat?

Auf persönlicher Ebene ja, denn sie war ja selbst ein Opfer puritanischen Erziehung. Auf historischer Ebene aber sollte es kein Verzeihen und Vergessen für das geben, was damals Jugendlichen, Frauen und Homosexuellen angetan wurde. Umso mehr, als es Anzeichen möglicher Wiederholungen gibt.

Jan Feddersen, 57, beschäftigt sich seit fast 40 Jahren mit den Themen Sex und Revolution.