Rausch der Tiefe

Luft holen. Abtauchen. Wie Reinhold Messner am Berg suchen Freitaucher ohne Atemgerät den Kick

VON ANGELIKA FRIEDL

Das Meer nahe der Insel Žirje in der kroatischen Adria: Der Schlitten schießt wie eine Rakete in die Tiefe. Vier Meter schafft er in der Sekunde. Schnell wird es dunkler, die Farben verblassen. Zuerst das Rot und zuletzt das Blau, bis bei etwa hundert Meter unter Null alles Licht vom Wasser verschluckt ist und totale Finsternis herrscht. Der Schlitten, er sieht aus wie ein Flaschenzug, rast immer weiter in den Abgrund hinein. An dem Gefährt hängt ein Mensch, aber eine Pressluftflasche fehlt. Seine ganze Luft hat er in den Lungen zusammengepresst. Apnoetaucher können sie minutenlang anhalten. Apnoe kommt aus dem Griechischen und meint Atemstillstand oder ohne Atmung. 160 Meter hat der Taucher nun erreicht. In dieser Tiefe liegt zurzeit der Weltrekord bei den Frauen.

Physikalisch heißt das, dass nun auf einem Quadratzentimeter der Haut ein Druck von etwa 16 Kilogramm lastet, die Lungen sind 16-mal kleiner als an der Wasseroberfläche. Aber der Taucher will eine neue Bestleistung bei den Männern wagen. In der vorab vereinbarten Tiefe von 183 Metern stoppt er schließlich. Ein neuer Weltrekord für Herbert Nitsch. Der Österreicher ist einer der Stars der Szene. „No Limits“ nennen Apnoetaucher die Disziplin, bei der sie mithilfe eines Schlittens bis zu einer abgesprochenen Tiefe hinabtauchen. Unten angekommen, koppeln sie den Schlitten ab, und ein luftgefüllter Ballon bringt die Taucher wieder zurück zur Oberfläche.

Wolle Neugebauer, ein schlanker, hochgewachsener Berliner, hält nicht viel von No Limits. Die Technik, sagt er, funktioniert oft nicht fehlerfrei. Bei No Limits gab es daher schon einige gefährliche und sogar tödliche Unfälle. Auch Loïc Leferme, der einstige Weltrekordhalter, starb bei einem Trainingstauchgang im April dieses Jahres. Die sportliche Leistung bei No Limits sei gering, vergleichbar mit einer Tiefe von 40 Metern, die man mit eigener Kraft, also zum Beispiel mithilfe von Flossen, erreichen würde. Für Wolle und viele Apnoetisten sind solche Tiefen etwas ganz Normales. So wie für einen Freizeitschwimmer die drei Meter, die man beim Schnorcheln bequem hinuntertauchen kann.

Schon als Kind bewegte Wolle Neugebauer sich gern im Wasser, konnte doppelt so lange tauchen wie seine Klassenkameraden. Seinen Einstieg in die Welt der Apnoetaucher erlebte er in einem Urlaub am Roten Meer. Dort schwamm er zwar auch mit Schnorchel, aber vor allem tauchte er frei in die Tiefe, um mit der Unterwasserkamera zu fotografieren. Wie tief er kam, wusste er zunächst nicht. Die Fotos von Schildkröten, Muränen, Clown- und Papageienfischen, die er abends Freunden vorlegte, stießen auf große Skepsis. Niemand wollte glauben, dass er bei seinen Tauchgängen für die Aufnahmen ohne Pressluftflasche ausgekommen war. Das Misstrauen ärgerte Neugebauer. Er lieh sich einen Tiefenmesser aus, und der zeigte eine Zahl an, die er selbst kaum glauben konnte: Ohne große Übung hatte er eine Tiefe von 25 Metern erreicht. Ein Tauchgang hat sich ihm besonders eingeprägt. „Es war nicht mehr so weit von der Oberfläche entfernt, und die Sonnenstrahlen hatten das Wasser über mir hell erleuchtet. Ich ging hoch und hatte das Gefühl, ich gehe ins Licht hinein.“ Eine mystische Erfahrung für ihn. Seitdem will er dieses Licht immer wieder sehen.

Neugebauer ist dem Rausch der Tiefe verfallen, so wie alle seine Kollegen. Als tiefste Entspannung, die man mit nichts vergleichen kann, so hat der bekannte Freitaucher Benjamin Franz einmal seine Empfindungen beschrieben. Jacques Mayol, Pionier der Bewegung und Vorbild für den Film „Im Rausch der Tiefe“ von Luc Besson, wollte gar mit dem Meer und den Delfinen eins werden. Der Mensch, so sagte er, sei vielleicht ein Wasserwesen, das sein eigentliches Element nur vergessen habe.

Apnoetaucher sprengen die physiologischen Grenzen des Menschen. Eigentlich, so dachten die Mediziner jahrzehntelang, müsste ab einer bestimmten Tiefe die Lunge reißen. Aber die Lunge kann sich anpassen, sagt der Tauchmediziner Claus-Martin Muth von der Uniklinik Ulm. Die geschrumpften Lungenbläschen üben nämlich einen Unterdruck auf die Blutgefäße aus, die sich dadurch vergrößern und so eine Schädigung der Lunge verhindern. Extremsportler wie Wolle Neugebauer schaffen es außerdem, ihre Lunge mit Luft vollzupacken. Einige hyperventilieren, atmen also schnell ein und aus, andere trainieren mit kombinierten Atem- und Schluckbewegungen. Manche üben mit den Atemtechniken des Pranayama aus dem Yoga. Der Brustkorb und das Zwerchfell trainierter Freitaucher müssen außerdem sehr flexibel werden, um nicht nur über die Ohren den starken Druck unter Wasser auszugleichen. Gefährlich können auch die euphorischen Gefühle werden. Denn auch wenn sich Freitaucher im Vergleich zu Flaschentauchern nur einige Minuten in größeren Tiefen aufhalten, kann sich dennoch etwas Stickstoff im Gewebe ansammeln. „Das ist ungefähr so, als hätte man mehrere Schnäpse getrunken“, beschreibt Wolle Neugebauer die Wirkung des Tiefenrausches auf das Gehirn. Aber man könne lernen, auch den Rausch zu kontrollieren.

Schwimmbad Märkisches Viertel, ein flacher, lang gestreckter Betonbau. Ein scharfer Kontrast zur blauen Adria. Das Meer bleibt das eigentliche Ziel und der Traum aller Taucher. Einen seiner Freunde, erzählt Wolle Neugebauer, könne er nur zum Trainieren animieren, wenn er ihm immer wieder die Schönheit des Meeres vor Augen halte. Wer aber abseits des Meeres wohnt, muss nun mal in Schwimmbädern trainieren. In der Halle im Berliner Norden finden auch Meisterschaften statt, zum Beispiel der Berliner Indoor Master Cup. Viel Aufregendes zum Gucken bieten solche Wettkämpfe jedoch nicht. Besonders beim Zeittauchen – Luftanhalten so lange wie möglich – schauen die Zuschauer nur auf reglose Körper in Neoprenanzügen, die bäuchlings auf dem Wasser liegen und den Kopf unter Wasser halten. Im Kleinkinderbecken. Neben den Wettkämpfern knien wie immer die Sicherungstaucher und passen auf, dass nichts passiert.

Spannend sind nur die Momente kurz vor und nach dem Auftauchen. Zittert der Nacken etwas und sind die Lippen leicht bläulich, dann hat der Taucher zu wenig Sauerstoff. Mit unkontrollierten Zuckungen und unverständlichen Lauten reagiert der Körper auf den Sauerstoffmangel. „Samba“ heißen die Aussetzer in der Szene. Während des Berliner Wettkampfes müssen die bereitliegenden Sauerstoffflaschen dann auch zweimal eingesetzt werden. Einige kurze Züge aus der Flasche, und schon ist alles ist wieder gut. Thomas, Medizinstudent im letzten Semester, der mit einem Arzt und einer Anästhesieschwester zur Hilfe bereitsteht, schimpft trotzdem: „Der Mensch ist einfach nicht geschaffen, ohne Sauerstoff auszukommen.“ Seiner Meinung nach ist Apnoetauchen ungesund und schädigt auf Dauer das Gehirn. Tatsächlich aber, gesteht Thomas zu, gibt es derzeit keine wissenschaftlichen Studien, die Gehirn- oder andere Organschäden nachweisen können.

Wolle Neugebauer hält an dem Tag im Berliner Schwimmbad sieben Minuten und 32 Sekunden die Luft an. Eigentlich die Bestleistung. Aber leider disqualifizieren ihn die Wettkampfrichter. Nach den strengen Regeln von AIDA Deutschland e. V., dem Verband zur Förderung des Apnoesports, muss der Aufgetauchte nämlich das Okayzeichen der Taucher geben. Daumen und Zeigefinger formen dafür ein O. Anschließend muss er noch einmal „Ich bin okay“ sagen. Neugebauer aber macht nur das Zeichen, murmelt ein „öh, öh“ und sagt erst dann: „Ich bin okay.“ Er trägt die Niederlage mit Fassung.

Apnoetauchen sei ein völlig ungefährlicher Sport, meint er, wenn man ihn im Schwimmbad übe. Auch das Tieftauchen ist seiner Ansicht nach kein Problem, mit Ausnahme der No-Limits-Disziplin. Sein Redefluss stockt, einige beängstigende Situationen hat er natürlich schon erlebt, gibt er zögernd zu. Einmal bei einem Tauchgang im „Free Immersion“, dem Auf- und Abtauchen mit Seil ohne Flossen, konnte er das Markierungszeichen, den Beweis für die erreichte Tiefe, nur an sich nehmen, indem er sich nach unten bückte. Eine solche Bewegung in einer Tiefe von 83 Metern belastet den Körper extrem. Aber eigentlich hatte er ursprünglich gar nicht die Absicht, die Markierung zu nehmen. Der Tiefenrausch verführte ihn zu der Bewegung, und er ließ sich dabei noch alle Zeit der Welt. Beim Auftauchen merkte er dann, dass seine Beine langsam schlapp wurden. Später konnte er sich nur noch am Seil hochziehen. 15 Meter vor der Oberfläche wurde er ohnmächtig.

Sein Sicherungstaucher schleppte ihn nach oben. Wolle Neugebauer verkrampfte sich und wehrte sich gegen die Versuche, ihn zu reanimieren, weil der Sauerstoffmangel ihm Monster vorgaukelte. Aber einer der Helfer im Boot reagierte souverän. Er brachte den Körper in Rückenlage und überstreckte den Kopf vollständig in den Nacken. „Das löst den Husten- und Atemreflex aus, und die Atmung setzt wieder ein. Das wirkt besser als eine Sauerstoffgabe“, lobt Wolle. Nach einer halben Minute kehrte dann das Bewusstsein zurück.

Aber auch nach solchen Erfahrungen käme es ihm nie in den Sinn, mit dem Tauchen aufzuhören. Warum auch, wenn die Sehnsucht nach dem mystischen Einheitsgefühl stärker ist als alle Angst? „Da unten ist es wunderschön, und ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas passieren könnte. Dort gibt es nicht mal den Gedanken an ein Sein.“

Weitere Rekordversuche sind also in näherer Zukunft geplant. Nur No Limits, die große Schlittenfahrt, lehnt Wolle Neugebauer weiterhin ab. Weil diese Fahrten, sagt er, für den Taucher nicht mehr kontrollierbar sind.

ANGELIKA FRIEDL, 46, besitzt das Freischwimmerabzeichen und kennt mit persönlichem Tauchrekord von 18 Metern auch den Rausch der Tiefe. An Land arbeitet sie als freie Journalistin in Berlin