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Archiv-Artikel

„Transsilvaniens Musik verschwindet“

Er findet, man sollte nicht nur „Ungarn“ präsentieren wie das diesjährige Schleswig-Holstein Musik Festival, sondern auch die rund 20 regionalen Musiken, die es dort gibt: Der Komponist Peter Eötvös erklärt, warum Europas Regionen gerade kulturell immer wichtiger werden

„Ich selbst würde natürlich immer für die Offenheit plädieren. Schließlich lebe ich auf der Welt. Auf der Erde“

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Eötvös, finden Sie das „Ungarn“-Motto des diesjährigen Schleswig-Holstein Musik Festivals im sich einigenden Europa sinnvoll?

Peter Eötvös: Grundsätzlich halte ich thematische Motti für sinnvoll. Ursprünglich waren sie ja ein Versuch, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts üblichen Abo-Reihen abzulösen, die besagten: Kommen Sie ruhig zum Konzert, es wird nichts Neues passieren. Außerdem ist das Ungarn-Motto eine Chance, die Aufmerksamkeit auf ein immer noch wenig bekanntes Land zu lenken. Und vielleicht bekommt das Publikum ein Ungarn-Bild, das es bislang nicht hatte.

Welches könnte das sein?

Wichtig ist vor allem, zeitgenössische ungarische Musik zu spielen. Denn im Grunde hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 20 Jahren kulturpolitisch nichts verändert. Die im Westen bereits bekannten Künstler sind es geblieben, und Neues wird kaum beachtet. Doch das Erwachen hat begonnen: 2009 wird es in der New Yorker Carnegie Hall ein Festival Neuer ungarischer Musik geben, zu dem auch ich eingeladen bin.

Gibt es spezifisch „ungarische“ Elemente in der Kunstmusik Ihres Landes?

Ja, aber das war nicht immer so. Bis zum Ende des 19. Jahrhundert gab es durch die enge politische Bindung an Österreich keine eigenständige ungarische Musik. Die Kulturen waren gemischt, und die Frage nach Abgrenzung stellte sich nicht. Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich die Ungarn gegen die Habsburger Monarchie zu stellen – auch der Komponist Béla Bartók schrieb in einem Brief: „Nieder mit den Habsburgern!“ Während dieser Zeit begann die Suche nach nationaler Identität. Die Komponisten – besonders die Generation Bartóks – suchten in der Volksmusik und wurden fündig. Wobei Bartók unendlich viel Volksmusik bis zum Balkan, zur Türkei und nach Arabien gesammelt und in seiner Musik verwertet hat. Seine Recherchen und die Zoltán Kodálys ergaben übrigens auch, dass manche volkstümlichen Melodien jahrhundertelang erhalten geblieben waren. Kodály konnte nachweisen, auf welchem Weg die Ungarn zur Völkerwanderungszeit vom Ural in die damals römische Provinz Pannonien im heutigen Ungarn gekommen waren. Denn die Melodien und Formen der heutigen Völker des Ural ähneln denen der ungarischen Volksmusik.

Wobei ungarische Volksmusik nicht identisch ist mit der häufig im selben Atemzug genannten „Zigeunermusik“?

Nein. Und die Idee, das Klischee von der ungarischen Zigeunermusik ist lustigerweise auf deutschen Einfluss hin entstanden: Johannes Brahms war ein großer Bewunderer jener Zigeunermusik, die einige der ungarischen Geiger spielten, mit denen er arbeitete. Dies war aber eigentlich Unterhaltungsmusik für Caféhäuser und Restaurants. Was nicht dasselbe ist wie die „echte“ Zigeunermusik der Sinti und Roma. Das ist eine auch harmonisch eigenständige Musik.

Welche Harmonien sind typisch für die ungarische Volksmusik?

Die Volksmusik kennt zwei Richtungen: Die eine ist pentatonisch, basiert also auf einer für westliche Ohren fremden, weil reduzierten Fünfton-Leiter. Das weist auf den fernöstlichen Ursprung dieser Musik hin. Solche Melodien sind oft mehrere Jahrhunderte alt. Die diatonischen volkstümlichen Weisen dagegen, die mit unserer Siebenton-Leiter arbeiten und in Dur und Moll unterscheiden, sind im 17., 18. Jahrhundert entstanden. Vermutlich unter dem Einfluss der Kunstmusik ihrer Zeit.

Und welche Harmonien prägen die „echte“ Zigeunermusik?

Vor allem ein spezielles Intervall, die so genannte arabische Terz. Sie klingt extrem emotional und, für unsere Begriffe, sehr exotisch.

Das Schleswig-Holstein Musik Festival hat auch „Zigeunermusik“ im diesjährigen Programm. Betrachten Sie die als Teil der ungarischen Musik?

Nein. Sie findet in Ungarn statt, das ist alles. Und natürlich arbeitet jeder, der diese beiden Dinge verbindet, bewusst mit einem Klischee, um ein großes Publikum anzuziehen. Ich mag nicht beurteilen, ob dies für das Festival positiv ist oder nicht, aber es ist schwer zu vermeiden. Aber wir versuchen auch ein Gegengewicht zu setzen, indem wir sagen: Wir haben das Klischee immer noch nicht abgeschafft – aber schauen Sie, was wir außerdem noch haben!

Was ist für Sie das typisch Ungarische in der zeitgenössischen Musik?

Es ist einerseits eine extrem gefühlsbetonte Haltung gegenüber der Musik überhaupt – dies haben wichtige in die USA ausgewanderte ungarische Dirigenten wie Georg Solti, Eugene Ormandi und George Szell amerikanischen Orchestern nahegebracht. Spezifisch ungarisch ist außerdem die Betonung: Wie in der ungarischen Sprache, die nicht-auftaktisch ist, also die erste Silbe betont, tut dies auch unsere Musik.

Integrieren Sie selbst auch volksmusikalische Elemente in Ihre Kompositionen?

Gelegentlich. Ich habe 1995 zum Beispiel das Stück „Atlantis“ geschrieben, das sich mit untergegangenen Kulturen befasst – zum Beispiel mit Transsilvanien, wo ich geboren bin. Die dortigen Tänze, die bis in die 1970er Jahre hinein noch gespielt wurden, sind im Verschwinden begriffen. In „Atlantis“ habe ich daher transsilvanische Volksmusik verwendet, wie ein Fundstück auf einer alten Schallplatte, wie eine Reliquie aus einer alten Kultur, die vergessen wurde.

Ein Objet trouvé?

Nein, denn ein Objet trouvé kann man auch auf dem Markt finden. Ich aber habe diese Musik unter Wasser hervorgeholt. Aus dem Sand gegraben.

Wenn Sie selbst lehren: Sind Sie auch dann als Ausgräber tätig?

Ja, aber ich schaue von der Gegenwart aus. Denn wenn man mit der Historie beginnt, bewirkt das meist, dass man unterwegs stecken bleibt und nie in der Gegenwart ankommt. Ich lehre die Studenten vielmehr, zunächst auf die Zeit zu schauen, in der sie leben – und hierfür dann Parallelen in der Vergangenheit zu finden. Denn wenn wir die Freundlichkeit haben, zunächst unsere Kollegen und Mitmenschen kennenzulernen, kann das sehr gewinnbringend sein.

Heißt das, die jungen ungarischen Komponisten werden internationalistischer?

PETER EÖTVÖS, 63, Dirigent und Komponist, studierte bei Zoltán Kodály und spielte unter anderem im Ensemble Karlheinz Stockhausens. Seit 1998 leitet er das Philharmonische Orchester Budapest. 1991 gründete er das Internationale Peter Eötvös Institut für junge Dirigenten und Komponisten, 2004 die Peter Eötvös Contemporary Music Foundation.

Es gibt derzeit zwei Strömungen unter den ungarischen Komponisten: Die eine ist sehr nationalistisch und riegelt sich fast hermetisch vom Westen ab. Die Angehörigen der anderen sind weltoffen und studieren im Ausland. Beide Fraktionen sind ungefähr gleich stark. Wobei ich selbst natürlich immer für die Offenheit plädieren würde. Schließlich lebe ich auf der Welt. Auf der Erde.

Dann sind Ländermotti wie das des SHMF ja doch nicht wichtig …

Doch. Ich gehe sogar einen Schritt weiter und sage: Die Regionen werden wichtiger. Vor ein paar Jahren gab es ein von etlichen namhaften Künstlern unterschriebenes, an die EU gerichtetes Communiqué. Es gab zu bedenken, dass Europa, wenn man die Gelder aus der Kultur in die Wirtschaft transferierte, seine Identität verlöre. Denn die besteht in der kulturellen Vielfalt. Man sollte auf einem Festival also nicht nur Ungarn, sondern die etwa 20 verschiedenen Facetten ungarischer Kultur zeigen. Auf dem diesjährigen Schleswig-Holstein Musik Festival wird das aber noch nicht der Fall sein, obwohl die Frage regionaler Identität in Zukunft interessant werden könnte. Allerdings würden dann viele politische Probleme entweder entstehen oder sich auflösen: Wenn man der Tatsache ins Auge blickte, dass eine Kultur nicht an der Landesgrenze stoppt.

Aber die Grenzen innerhalb der EU sind doch offen.

Ja, man kann sie ohne Pass passieren. Aber kulturell und politisch sind unsere Grenzen nach Rumänien und zur Slowakei immer noch dicht.

Aber ähneln sich nicht die Dörfer direkt rechts und links der Grenze?

Natürlich! Es ist ein stufenloser Übergang von einer Kultur zu anderen. Wie sich auch die Sprache von Region zu Region ganz allmählich verändert.

Aber warum im Nachbardorf plötzlich andere Ausdrücke benutzt, andere Lieder gesungen werden …

Das lässt sich schwer ergründen.

Peter Eötvös dirigiert am 14. 8. um 20 Uhr in den Hamburger Kammerspielen eigene Kompositionen, dargeboten vom „Ensemble intercontemporain“