68. INTERNATIONALE FILMFESTSPIELE VON VENEDIG
: Drei Päckchen Zigaretten später

LIDOKINO (5) Eine Begegnung mit Chantal Akerman, die „La folie Almayer“ von Joseph Conrad verfilmt hat

Chantal Akerman setzt sich auf den Gartenstuhl, und das Erste, was sie sagt, ist: „Ich brauche unbedingt ein Mineralwasser.“ In der Nacht von Samstag auf Sonntag hat sie die Premiere ihres Filmes „La folie Almayer“ gefeiert. Bis halb sechs war sie unterwegs, mindestens drei Päckchen Zigaretten hat sie geraucht. „Ich bin erschöpft“, sagt sie, als wir uns ein paar Stunden später im Garten des Albergo Quattro Fontane begegnen. „Aber ich spreche natürlich trotzdem mit Ihnen.“

Akerman ist 61 Jahre alt, sie trägt ein weißes Hemd, eine graue Hose und eine Ray-Ban-Sonnenbrille, hinter der ich ihre Augen nicht sehen kann. Als unser Gespräch schon ein wenig fortgeschritten ist, schiebt sie die Brille hoch ins halblange Haar, sie hat helle, grün-graue Augen mit braunen Sprenkeln drin; ich schreibe das auf, weil ich die Lebendigkeit ihres Blicks und ihre Lachfalten mochte. Sie ist erstaunlich offen, spricht von sich und ihrer Familiengeschichte, von ihrer Mutter, die Auschwitz überlebt hat, von einer Kindheit, die davon imprägniert war, und von manisch-depressiven Zuständen, die ihr nicht fremd sind.

Akermans Filme haben mich auf einer Ebene berührt, in der sich das Persönliche nicht von der Cinephilie trennen lässt. Etwa ihre Dokumentation „De l’autre côté“ (2002), ein Film über Mexikaner, die in die USA einwandern, oder ihr Debüt „Saute ma ville“ (1968), in der sie selbst eine Frau spielt, die sich in ihrer Küche einschließt, um außer sich zu geraten. In vielen ihrer Filme gibt es ein unvermitteltes Nebeneinander von Aufbruch und Gefangenschaft, in „La folie Almayer“ etwa ist der maßgebliche Handlungsort, ein Holzhaus an einem Fluss, eine Art selbst gewähltes Gefängnis für den glücklosen Protagonisten Almayer (Stanislas Merhar).

Nun ist es einerseits ein großes Privileg, auf Filmfestivals Leuten zu begegnen, deren Werk einem viel bedeutet, andererseits ist es gar nicht so leicht, weil man seine Bewunderung im Zaum halten muss, um ein ergiebiges Gespräch zu führen. Zugleich darf es mit der Konfrontation nicht übertreiben, läuft man doch Gefahr, sein Gegenüber zu verärgern. Das wiederum hat meistens schon mehrere Interviews hinter sich und die gleichen Fragen wieder und wieder gehört. Umso schöner also, wenn eine solche Begegnung den Umständen zum Trotz intensiv wird.

Meine erste Frage freilich – sie gilt der der „typisch kolonialen Situation“, die „La folie Almayer“ erforsche, wehrt Akerman ab: Wieso eine koloniale Situation? Die Geschichte könne sich auch im heutigen Deutschland zutragen, mit einer deutschen und einer türkischen Figur in den Hauptrollen. Aber dann gäbe es weder den Fluss noch den Dschungel, weder die Hitze noch den tropischen Regen, weder das Goldgräberfieber noch die Malaria, und all dies ist wesentlich für diese Geschichte von einem Vater und einer Tochter in einem verlassenen Winkel Südostasiens. Der Mann träumt von Reichtum und davon, dass seine Tochter Nina (Aurora Marion) eine Europäerin werden möge; seine Frau verachtet er, nennt sie nur die „Malaysierin“, was ein wenig wie „malaise“, Krankheit, klingt.

Gefilmt ist das in langen, ruhigen Einstellungen, die bedächtigen Kamerafahrten folgen den bedächtig sich bewegenden Figuren, Musik spielt eine große Rolle, besonders in der Exposition, in der „Sway“, ein Song von Dean Martin, und Mozarts „Ave verum corpus“ in voller Länge vorgetragen werden.

Zum ersten Mal in ihrem Leben, sagt Akerman, habe sie sich beim Drehen frei gefühlt. Am Set in Kambodscha habe sie Pyjamas getragen, keinen festen Drehplan gehabt, sich einfach auf die Schauspieler eingelassen und auf das Momentum des ersten Takes vertraut. Ein Rätsel, warum das Ergebnis außer Konkurrenz und nicht im Wettbewerb läuft.

CRISTINA NORD