: Eine Frage der Interpretation
Fast wollte er daran verzweifeln, dass er seine Musik dann gar nicht mehr hören konnte mit den tauben Ohren. Aber sehen konnte sie Beethoven zumindest noch, seine Musik, und zwar genau mit den Hilfsmitteln, die es überhaupt möglich gemacht haben, dass auch wir Beethovens Musik so kennen, wie sie sich der Komponist wenigstens in etwa selbst vorgestellt hat. Versierte Musiker können sie vom Blatt spielen. Ohne diese fünf Linien mit den Pünktchen drauf wäre es lange nichts gewesen mit dem musikalischen Austausch zwischen den Orten und Zeiten. Wobei solche Spielanleitungen anderswo ganz anders ausschauen konnten. In China beispielsweise, wo man statt der Pünktchen lieber Ziffern verwendete: An so einer Jianpu-Notation aber beißen sich selbst geübte Notenblattleser die Zähne aus, einfach weil sie die darin notierten Vereinbarungen nicht kennen.
Wie aber spielt man nun eine Mondsichel vom Blatt?
Weil sich so eine Sichelform durchaus mal finden kann auf aktuelleren Notenblättern der Neuen Musik. Oder Schlangenlinien, Schraffen oder gleich bunte Bildchen, sodass diese Notenblätter weniger konventionellen Notenblättern und mehr einem Kandinsky gleichen. Etwa ab den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gaben Komponisten solche „Grafischen Notationen“ oder „Musikalischen Grafiken“ als Spielvorlage heraus, weil ihnen die klassische Notation einfach nicht mehr genügte für ihre Lust am Experiment und weil ihnen die alten Absprachen weniger wert waren als der Drang, mal wieder die Türen weit aufzureißen und sich ins Freie zu wagen. Und die Interpreten müssen da halt mit bei dieser Herausforderung an musikalische Intuition. Hilfestellung für die Improvisation sollen solche grafischen Vorlagen auch sein, wobei es die Neue Musik als gewissenhafte Fortsetzung des Klassikbetriebs so ungezügelt wie im Free Jazz dann doch nicht mag. Selbst in diesen sehr speziellen Aufschrieben ist wieder einigermaßen akribisch festgelegt, wo und wann sich man als Interpret nun locker machen soll.
Aber hübsch anzuschauen sind diese Partituren allemal. In dem Buch „Notations 21“ hat Theresa Sauer etliche Beispiele gesammelt, darunter auch was von Leon Schidlowsky, dem chilenisch-israelischen Komponisten (und Maler), der einen beträchtlichen Teil seines Werkes in Musikalischen Grafiken notiert hat. Wie die nun gespielt werden müssen (oder können), ist am Samstag in der Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz zu hören. Bei einem Konzert anlässlich des 80. Geburtstags des Komponisten mit einem Querschnitt durch sein grafisch-musikalisches Werk. THOMAS MAUCH
■ Leon Schidlowsky: Emmaus-Kirche, Samstag 20 Uhr. 12/8 Euro