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Archiv-Artikel

Neue Endgegner und keine Vorsätze

KONZERT Im Spinnennetz eskapistischen Wahnsinns: Die Hamburger Kunstgruppe HGich.T hatte sechs Tage nach Heiligabend zur großen Bühnenshow ins Lido eingeladen

Mit „Hauptschuhle“ und „Dr. XTC“ feiert der gesamte Raum seinen erweiterten Kunstbegrifff, nur um wenig später zu skandieren: „Künstlerschweine, ich breche euch die Beine!“

VON THOMAS VORREYER

Verdammt, da ist der erste Vorsatz des Jahres zu mehr Aktualität und Pünktlichkeit gleich wieder gebrochen! Wer will schon am 2. Januar noch etwas von Weihnachten lesen? Und doch: Wir sind voll im Soll, fand doch der nachfolgend zu bilanzierende „X-Mas Rave“, übersetzt: Abdrehen für Christi Geburt, immerhin ganze sechs Tage nach Heiligabend statt.

Eingeladen ins Lido hat die Hamburger Kunstgruppe HGich.T. Seit Mitte der Neunziger veranstaltet man eskapistische Bühnenshows des Wahnsinns. Vor vier Jahren erschien dann das erste reguläre Album inklusive absurder Videos wie jenes zum Song „Tutenchamun“. Mit „Megababo“ folgte in diesem Jahr dann bereits die dritte Langspielplatte. Währenddessen sind HGich.T auf mittlerweile knapp zwanzig Mitglieder angewachsen, von denen allerdings an diesem Abend nur gut die Hälfte den Weg nach Berlin gefunden hat. Dafür wurde ein riesiges Spinnennetz im ehemaligen Kinosaal aufgespannt, das sich auf der Bühne in einer hexenhausartigen Installation verfängt. Wenn ein Zuschauer oder eine Zuschauerin am Netz rüttelt, wackelt der ganze Raum.

Es ist voll. Von Zurückhaltung angesichts eines Dienstagabends, noch dazu ein Tag vor Silvester, ist nichts zu spüren. Das Publikum ist in alle Richtungen bunt gemischt. Erstsemester, Pflegekräfte, Anwälte – es ist, als hätten sich gut hundert WG-Küchen an einer einzigen riesigen Tafel versammelt. Man trägt neongrell gefärbte Augenbrauen, schwarzen Lippenstift, Warnwesten, Bademäntel oder ganz normal-langweilige Winterkleidung.

Das Konzert ist eher ein musikalisches Schrottwichteln als eine große Betriebsweihnachtsfeier: DJ Hundefriedhof und Dr. Diamond (der wohl schlechteste Luftgitarrist der Welt, aber das nur am Rande) lassen die HGich.T-typischen Goa-Trance- und Pop-Techno-Attacken zunächst nur bruchstückhaft anlaufen, immer wieder wird der Bass rausgenommen. Psychedelische Zwischenspiele und keck geniedelte Macho-Metal-Gitarrenriffs unterbrechen die Songs. Die schnell zünftig angeheizte Menge kommt so nur kurz zu ihren Mitgröl-Mitklatsch-Einsätzen, wird aber schon bald von der schönen Maike belohnt, die Umarmungen verteilend durch die Menge schreitet.

Und auch Hauptsänger Vhagvan Svami (ehemals Anna-Maria Kaiser) mischt sich schreiend unter sein treues „Peperoni-People“. Als er sich das erste Mal auf Händen über die Köpfe liften lässt, reißt er das schöne Spinnennetz zu Boden. Die Show verliert jeden Halt. Svami – eine Telefonnummer wie immer quer über die Stirn – starrt leeren Blicks in die Menge. Manche lachen das erste Mal laut über seine pointenlosen Witze, andere liebkosen ihn, wieder andere blicken – mittlerweile delirierend – ebenso leer und regungslos zurück. Immer dann sucht er nicht die Konfrontation, sondern stürzt in entgegengesetzte Richtung davon.

Die Musik wummert nun ungehindert durch. Mit „Hauptschuhle“ und „Dr. XTC“ feiert der gesamte Raum seinen erweiterten Kunstbegriff, nur um wenig später zu skandieren: „Künstlerschweine, ich breche euch die Beine!“ Bei HGich.T finden Prolligkeit und Zärtlichkeit zueinander, Drogenrausch trifft Proletariatsalltag. Linksalternative nutzen die Chance, sich auch einmal so zu verhalten, wie es die Mitmenschen jenseits der Distinktionsgrenze im Fußballstadion oder in der Après-Ski-Hütte vorleben: „Olé, olé, olé, olé! Olé, olé, olé, Harz for!“

HGich.T stehen dabei in Konkurrenz zu Scooter, Deichkind, Ernie & Bert, Alexander Marcus und Michael Wendler. Dass das Konzept des Kollektivs allerdings auch am Ende eines Jahres, in dem ihm mit Helene Fischers „Atemlos“ ein neuer Endgegner erwachsen ist, weiterhin vollends aufgeht, ist seine eigentliche Leistung.