: Blut ist dicker
BEZIEHUNGEN Der Sohn will nur eins, Liebe. Von seinem Vater bekommt er sie nicht. Weshalb er versucht, ihn loszuwerden. Seit Jahrzehnten
■ Trennungen: Wie geht es Eltern, die von ihren Kindern verlassen werden? Manche gründen Selbsthilfegruppen. Ein Interview mit einer Psychotherapeutin finden Sie unter taz.de/schlussmiteltern
VON ANSELM WORTHIK (TEXT) UND STEPHANIE F. SCHOLZ (ILLUSTRATION)
Ich bin ein Arschloch. Ich weiß das aus allererster Hand. Mein Vater hat es mir gesagt. Nicht das erste Mal, aber kürzlich erst wieder. Der soll ruhig wissen, hat er zu seiner Frau, meiner Mutter gesagt, dass er ein Arschloch ist. Er hat auf meiner Couch gesessen, in meinem Wohnzimmer, neben meiner Frau und meiner Tochter. Er hat mich angeschaut, als hätte er bloß festgestellt, dass das Wetter schon mal besser war. Er hat nicht gelächelt, er hat sich nicht entschuldigt, er hat nichts weiter gesagt. Ich habe auch nichts gesagt. Ich habe gedacht: Ja, du auch.
Dann hab ich noch einen Schluck Weißwein genommen. Von demselben Weißwein, von dem mein Vater ein paar Schlucke zu viel hatte. Der Weißwein stammt von ihm, einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten kommt eine Direktlieferung von seinem Lieblingswinzer. Jetzt ist es Spätsommer, meine Eltern sind zu Besuch. Sie sind 400 Kilometer mit dem Auto gefahren, sie haben Gastgeschenke verteilt, sie haben sich zum Abendessen gesetzt und das erste Glas Wein wurde getrunken. Nach dem Essen sind alle auf die Couch umgezogen, um noch mehr Wein zu trinken. Irgendwann ist die erste Flasche leer und ich hole noch eine aus dem Keller. Als die zweite Flasche geleert ist, verlangt mein Vater nach einer dritten.
Im Keller habe ich einen Moment Zeit nachzudenken. Es ist kühl und ruhig, und ich weiß, dass nun bald der kritische Pegel erreicht sein wird, bei dem meinen Vater das Gefühl übermannt, ein paar seiner Wahrheiten verkünden zu müssen. Dass er mal sagen möchte, was er von Flüchtlingen hält, von seinen Enkeltöchtern oder von mir. In diesen paar Minuten im Keller kann ich mir die erprobte Strategie wieder zurechtlegen: ignorieren und den Abend möglichst schnell beenden.
Aus dem kalten Krieg wird kein heißer mehr. Nach all den Jahren sind die Kombattanten müde.
Auch wenn die Strategie meist erfolgreich ist, fragt man sich als Arschloch doch, warum man sich das noch antut. Könnte man so einen Vater nicht einfach zum Teufel jagen? Geht das? Kann man sich von seinen Eltern scheiden lassen?
So eine Trennung ist nicht harmlos. Ganze Mythengebäude haben ihr Fundament in der Loslösung der Kinder von ihren Erzeugern. In der griechischen Göttergeschichte entmannt der Titan Kronos seinen Vater, den grausamen Himmelsherrscher Uranos, mit einer Sichel, wird selbst König, um später in einem zehnjährigen Kampf von seinem Sohn Zeus in die Unterwelt gestürzt zu werden. Ohne Schmerzen und ohne ein gewisses Maß an Brutalität ist der Abschied von jenen, die wir nach christlichem Gebot lieben und ehren sollen, nicht zu haben. Franz Kafka hat so einen Schritt in einem der großen Werke der deutschen Literatur beschrieben, dem „Brief an den Vater“.
Ich frage mich seit Jahrzehnten, ob ich zu einem endgültigen Bruch in der Lage bin, spätestens seit der Pubertät. Heute ist mein Vater immer noch da.
Vielleicht habe ich mich an die Beleidigungen gewöhnt. Ich befinde mich in guter Gesellschaft. Die Welt meines Vater ist voller Arschlöcher und Idioten. Die Kollegen, die er hatte, bevor er Rentner wurde. Die Freunde, die er seltsamerweise immer noch hat. Politiker sowieso, Künstler, Sportler und Manager, die im Fernsehen generell und überhaupt die da oben, aber auch die, die gerade im Weg rumstehen, die, die ihre Millionen nicht verdienen, und die, die völlig zu Recht arm sind.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater ein Mal über jemanden gesagt hätte: Das ist ein toller Typ. Den kann ich gut leiden. Der ist interessant, schlau oder wenigstens nicht ganz verkehrt. Mehr als eine von Missgunst flankierte Koexistenz scheint ihm verdächtig. Über Künstler sagt er, das könne er auch. Schwarze sind faul, Juden geldgierig, Preußen überflüssig.
So ein Weltbild macht auch vor der Familie nicht halt. Die Frau hält er für unterbelichtet. Die Enkelkinder sind fett und undankbar. Der eine Sohn ist träge und dumm. Und ich, der andere, bin eben ein Arschloch.
Nicht, dass mein Vater sich selbst oft loben würde. Ich weiß nicht, wie er über sich denkt. Vielleicht hält er sich selbst auch für ein Arschloch. Dass er sich hasst, würde immerhin erklären, warum er andere erniedrigen muss, um sich selbst zu erhöhen.
Selbst wenn es eine Antwort gäbe auf die Frage, warum mein Vater so ist, bin ich mir nicht sicher, ob ich sie noch hören wollte. Ich bin erschöpft.
Einmal die Woche rufe ich an in der alten Heimat, höre mir zuerst das sich im Kreis drehende Geplapper meiner Mutter an, wer gerade gestorben ist, wer kurz davor ist. Dann kommt mein Vater ans Telefon, und wenn er nicht sagt, er lässt sich von seiner Frau alles erzählen, was er wissen muss, und schön dass du angerufen hast, dann kann ich ihn womöglich noch davon überzeugen, mir zu berichten, wie es so läuft ohne Prostata, ob der heimatliche Fußballverein den Trainer entlassen sollte oder doch lieber den Sportdirektor. Jedes kribbelige Thema vermeide ich und versuche, so wenig wie möglich von mir preiszugeben. Es ist ein innerer Rückzug. Andere Kinder schaffen es, ihren Eltern ganz zu kündigen. Es gibt Psychotherapien für Mütter und Väter, die sich verlassen fühlen und von einem fast körperlichen Schmerz sprechen, für Söhne und Töchter, die den Kontakt abbrechen, oft weil sie keinen Partner finden und die Probleme mit den Eltern dafür verantwortlich machen.
Ich habe es ja auch versucht.
Ich bin so weit weggezogen, wie es mir möglich erschien. Ich habe mich hinter eine real existierende Mauer auf eine Insel inmitten eines fremden Landes geflüchtet. Noch heute sind mir die Hunderte von Kilometern zwischen Berlin und meinem Heimatort ein unverzichtbarer Sicherheitsabstand, der dafür sorgt, dass nicht jemand überraschend vor der Tür steht, den ich nur in wohl dosierten Einheiten vertrage.
Zwischenzeitlich brach ich den Kontakt ab. Ein Jahr lang habe ich nicht mit meinen Eltern gesprochen. Ich hatte mich verliebt und meine Mutter mochte weder die Frau noch das Kind, das sie mitbrachte. Meinem Vater war es egal.
Das Trennungsjahr war heilsam. Seitdem, bin ich mir sicher, nimmt meine Mutter vor jedem Treffen meinem Vater das Versprechen ab, auf Provokationen zu verzichten. Sie sind seltener geworden.
Auch ich habe in diesem Jahr einiges gelernt. Vor allem, dass ich ganz gut ohne meine Eltern auskommen kann.
Als ich noch ein Kind war, wusste mein Vater alles, konnte alles, machte alles. Meine Mutter war die beste Hausfrau und Köchin der Welt. Mein Vater war ein Held. Er war kaum zu Hause, bereiste die Welt. USA, Kanada, Australien, Taiwan. Sogar in Südafrika verkaufte er deutsche Fabriktechnik. Wenn er zurückkam, erzählte er von Arbeitskollegen, die holländisch klingende Namen trugen, großkalibrige Waffen über dem Kamin hängen hatten und nichts anderes taten, als riesige Steaks zu grillen. Mein Vater brachte Antilopenfelle mit, die im Kinderzimmer aufgehängt wurden. Nebenbei baute er noch ein Haus für uns.
Wenn mein Vater von einer seiner Geschäftsreisen zurückkam, warteten mein kleiner Bruder und ich aufgeregt aufs Schlagen der Wohnungstür. Wir fieberten unserem Lunchpaket entgegen. Ein verschließbares Plastiktütchen, gefüllt mit zwei Mandarinen, einem mit Zellophan umwickelten Käsebrötchen und Orangensaft in einem Becher mit abziehbarem Aluminiumdeckel. Abgepackt von Lufthansa, Geschenke aus der Zukunft, Nachrichten aus einer weit entfernten, schicken, moderneren Welt, in der mein Vater ein geheimnisvolles Zweitleben führte. Aus dieser Welt brachte er nicht nur das eine Lunchpaket mit, das ihm als Fluggast zustand, und das er sich vom Munde abgespart hatte, sondern sogar zwei, für jeden seiner Söhne eins. Wir haben nie gefragt, wie ihm das gelang. Mein Vater konnte alles.
Er konnte mich sogar aufwecken mitten in der Nacht, um fernzusehen. Mondlandungen und Boxkämpfe gehören zu den ersten und liebsten Erinnerungen meiner Kindheit. Astronauten schweben in klobigen Anzügen herum wie Wattebäusche, Muhammad Ali hängt in den Seilen, steckt die Schläge von George Foreman ein und gewinnt doch in der achten Runde. Ich bin sechs, sieben Jahre alt, und habe so lange gebettelt, bis mein Vater versprochen hat, dass er mich nachts weckt. Wenn er dann ins Kinderzimmer kommt, ist er ganz leise, damit mein kleiner Bruder nicht aufwacht. Ich liege eh wach. Dann sitze ich neben meinem Vater auf der Couch, im Licht der roten Stehlampe mit dem psychedelischen Muster, wir blicken wortlos auf die flimmernde Röhre, die Bilder sind schwarz-weiß, alle anderen schlafen, und ich fühle mich sehr erwachsen. Vor allem aber fühle ich mich wahrgenommen, gewollt, geliebt.
Diese Erinnerungen sind mir teuer, weil sie so selten sind. Denn mein Vater hat mich nicht geliebt. Oder, wahrscheinlicher: Er hat mich geliebt, aber er zeigte es nicht. Alle Versuche, mit ihm darüber zu reden, Kontakt aufzunehmen auf einer emotionalen Ebene, sind gescheitert. Die kindlichen, weil er nur selten da war. Die späteren, weil ich nicht so kommunizieren wollte wie er – und er es wohl nicht anders konnte. Selbst damals vor dem Fernseher saßen wir nur nebeneinander, berührten uns nicht und sprachen nicht. Wie zwei Männer am Bundesligaspieltag in einer Sportkneipe. Vielleicht war das seine Vorstellung von einer Vater-Sohn-Beziehung.
Irgendwann, lange bevor ich diesen Entschluss rational hätte fassen können, habe ich mich ganz offenbar damit abgefunden, dass mein Vater nicht über Gefühle redet. Dass er das nicht gelernt hat.
Als ich noch reden wollte, haben wir uns gestritten. Die durch sorgsame Abnutzung entstandenen Löcher in den Hosen meiner Punk-Phase haben ihn nicht gestört, bei allem anderen hatte er eine feste Meinung. Er wusste, dass Kernkraft prima ist, dass Juden gut mit Geld umgehen können und Schwarze schnell rennen. Ich bescheinigte ihm die mentalen Voraussetzungen für eine steile Karriere in einem KZ. Er nannte mich einen Spinner, einen Idioten. Ein Arschloch.
Eine Zeit lang verband uns Generalleutnant Rommel
Bevor ich zum Arschloch wurde, war ich ein stilles Kind. Ich las, wenn ich aus der Schule kam, ich las, bevor ich zum Sport ging. Ich wühlte mich durch das Gesamtwerk von Karl May, das mein Vater in seiner Kindheit angesammelt hatte und bei dem einige Bände noch in Frakturschrift waren. Ich las die „Angelique“-Schmonzetten, die Bertelsmann meiner Mutter jedes Quartal schickte. Ich las das Geschichtsbuch, das ich mit acht oder neun Jahren in der Schublade eines alten Schreibtisches fand. Das Buch roch nach Oma, begann mit dem Neandertaler und endete mit den Helden des U-Boot-Krieges. Es war 1941 erschienen, zwei Drittel der Menschheitsgeschichte nahm der Zweite Weltkrieg ein. Generalleutnant Erwin Rommel wurde zu einem Helden meiner Kindheit.
Das hat, so würde ich das heute sehen, mich eine Zeit lang mit meinem Vater verbunden. Als er ein Kind war, verehrten sie den Panzergeneral tatsächlich noch. Als ich zwölf wurde und halbwegs selbstständig zu denken anfing, verabschiedete ich mich von Rommel. Das ist meinem Vater wahrscheinlich nie gelungen. Er hat sich, so erzählt er es zumindest, vor der Hitlerjugend gedrückt, aber das Gedankengut in die neue Zeit gerettet, so wie viele andere aus der Wiederaufbaugeneration.
Der Kampf, den ich kämpfte, war ein einsamer. Mein Bruder hielt sich aus allem raus. Meine Mutter stimmte immer dem Argument zu, das sie zuletzt gehört hatte. In den Büchern, die ich las, gab es zwar Väter, die mit ihren Söhnen stritten, aber niemanden, dem seine Eltern so fremd waren wie mir die meinen. Und die 68er, die ihre Nazi-Väter herausgefordert hatten, waren zu weinerlichen Hippies geworden, zum Hassbild des Punkrocks, den ich laut in meinem Zimmer hörte. An dessen Wand hing immer noch die Haut einer toten Antilope.
Worüber beschwere ich mich? Ich hatte es doch prima. Ich hatte immer genug zu essen und im Winter etwas Warmes anzuziehen. Ich durfte lesen und hören, was ich wollte, ausgehen, so lange ich wollte, und schließlich durfte ich werden, was ich wollte, auch wenn mein Vater bis heute nicht verstanden hat, was ich da so mache als Journalist, weil er es nicht wissen will, weil er ja schon alles weiß, was er wissen muss.
Ich bin nicht missbraucht und nie geschlagen worden. Nicht von meinem Vater. Meiner Mutter ist drei, vier Mal, wie man damals sagte, die Hand ausgerutscht. Mein Vater war jähzornig, aber diese Grenze hat er nie überschritten. Heute denke ich: vor allem wohl aus Desinteresse.
Bin ich undankbar? Und bekommt man ein Kind, damit es wenigstens einen gibt auf der Welt, der einem dankbar ist?
Meine Eltern haben Kinder bekommen, weil man eben Kinder bekam. Bevor die Grünen entdeckten, man habe die Welt von seinen Kindern nur geliehen, machten sich die meisten Menschen nicht allzu viele Gedanken darüber. Das war nicht die Schuld meiner Eltern. Es war mein Glück, weil es mich sonst nicht gäbe. Glücklich war ich deshalb nicht.
Ich war auch nicht unglücklich. Ich wusste es nicht besser. Dass ich zum emotionalen Krüppel erzogen worden war, habe ich erst später gemerkt. Als die Entscheidung anstand, ob ich selbst eine Familie gründen wollte. Ich wollte keine Kinder haben, ich wollte kein Vater sein. Ich habe mich geweigert, die Eltern meiner Frau kennenzulernen. Wenn deine Familie nur halb so schlimm ist wie meine, habe ich gesagt, dann brauch ich nicht noch eine zweite.
Nun habe ich eine zweite Familie, die sehr viel besser ist als das, was ich kannte, aber trotzdem niemals meine erste Familie wird werden können. Meine Frau und ich streiten nur noch selten, aber nach jedem existenziellen Krach befällt mich ein erschütterndes Gefühl der Heimatlosigkeit. Wohin, frage ich mich dann, gehe ich, wenn alles zusammenbricht? Wer stellt jetzt keine blöden Fragen, sondern versteht mich auch ohne Worte? Wo steht die Couch, auf der ich mich verstecken kann?
Alle anderen unter den Freunden, den Verwandten besitzen noch eine erste Heimat. Sie könnten zu ihren Eltern gehen, egal, was passiert. Sie wissen, dass es noch ein Zuhause gibt, wenn das Zuhause, das sie sich selbst gebaut haben, zerbrechen sollte. Sicher, auch ich könnte zurück, mein Vater würde die Tür öffnen, meine Mutter ein Bett beziehen, aber ich würde nicht nach Hause kommen.
Ich vertraue meinen Eltern nicht. Mir fehlt dieses Gefühl, ihnen alles sagen zu können. In den Arm genommen zu werden, egal was ich getan habe. Das Gefühl, keine Fehler machen zu können.
Als Kind im Haus meiner Eltern war ich wahnsinnig gut im Fehlermachen. Für jeden Missgriff bekam ich einen Vortrag, wie es besser geht. Wenn ich etwas richtig machte, etwas gut konnte, wurde es zur Kenntnis genommen. Ich wurde nicht gelobt, auch mal großartig gefunden oder wenigstens einigermaßen prima. Ich war halt da. So wie das Essen, das dreimal am Tag auf dem Tisch zu stehen hatte.
Ziemlich gut war ich eine Zeit lang im Tischtennis. Ich habe in Mannschaften gespielt, war Trainer. Fünf Tage in der Woche. Den Sport habe ich geliebt, der Verein war meine Ersatzfamilie. Mein Vater hat nicht einmal gefragt, wie eines der Spiele ausgegangen ist.
Nicht geschimpft ist genug gelobt – das hat er zwar nie gesagt, aber er hat es gelebt. Für gute Noten bekam ich Geld. Für eine Eins eine Mark und für eine Zwei fünfzig Pfennig. Ob es die Eins in einer Klausur oder für ein Bild im Kunstunterricht gab, war egal. Es gab immer eine Mark. Das war die Liebe, die er geben konnte.
Heute fragt mein Vater manchmal am Telefon, wie es beruflich so läuft, aber die Zeitung, für die ich regelmäßig schreibe, würde er nie abonnieren. Meine Schwiegereltern schicken ihm bisweilen einen meiner Artikel zu. Keine Ahnung, ob er sie liest. Vielleicht folgt er heimlich im Internet den dort reichlich vorhandenen Spuren seines Sohnes, jedenfalls macht er sich die Mühe, die alljährlichen Steuerspartipps aus der Lokalzeitung einzuscannen und mir zu mailen.
Ein einziges Mal stand mein Vater vor mir und wollte wissen: Was habe ich dir getan? Es ist ein trüber Morgen, niemand außer uns beiden wach. Wir stehen in der Küche in dem Haus, das mein Vater gebaut hat. An der Wand glänzen die Fliesen nach Jahrzehnten immer noch so, als hätte er sie gestern erst angeklebt. Es riecht nach Putzmittel.
Was habe ich verbrochen?, fragt er. Was haben meine Söhne gegen mich?
Dass ich mich nicht geliebt fühle, sage ich ihm. Dass er kein Interesse an seinen Söhnen hat.
Er sagt, ich solle nicht ständig von Gefühlen reden, sondern konkret werden und erklären, was ich gegen ihn hätte.
Ich frage zurück, ob er wenigstens ein Mal darüber nachgedacht hat, was sein Anteil an unserem gestörten Verhältnis sein könne.
Er sagt, seine einzige Erklärung sei, dass meine Mutter ihre Söhne gegen ihn erzogen hat.
Wie soll man mit jemandem reden, der vorgibt, wissen zu wollen, aber dann doch nichts wissen will?
Eine der wenigen Geschichten aus seiner Kindheit, die mein Vater mal erzählt hat, geht so: Mein Großvater kam erst Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Kriegsgefangenschaft heim. Er war krank, schwächlich, die Gefangenschaft hatte ihm zugesetzt. Mein Vater, ein Teenager, überredete ihn zu einer Fahrradtour. Nach wenigen Kilometern hatte mein Vater einen platten Reifen, sein Vater überließ ihm sein Rad, schob das kaputte nach Hause. Er reparierte es und ward nicht mehr gesehen.
Mein Vater hatte einen abwesenden Vater. Einer der wenigen gemeinsamen Momente – vorzeitig abgebrochen. Kurz darauf ist der Vater meines Vaters dann gestorben. Und aus meinem Vater wurde jemand, der daran glaubt, dass Väter keine Schwäche zeigen dürfen. Dass Väter vor allem dafür arbeiten sollen, dass es die Kinder einmal besser haben. Und dass man Gefühle vielleicht hat, aber besser nicht über sie spricht.
Ich modelliere mich als Gegenentwurf zu ihm
Es gibt also eine Erklärung. Sie ändert nur nichts daran, dass ich mit jemandem verbunden bin, mit dem ich freiwillig keine zwei Stunden verbringen würde. Mit jemandem, von dem ich vor allem weiß, dass ich nicht so sein möchte wie er. Obwohl, und das ist wirklich gemein, ich ihm ähnlich bin.
Äußerlich. Und inwendig. Der Pragmatismus. Der Jähzorn. Also habe ich den großen Teil meiner Menschwerdung damit zugebracht, mich selbst als Gegenentwurf zu meinem Vater zu modellieren. Andere mögen das gestörte Verhältnis zu ihrem Erzeuger umwandeln in einen großen Ehrgeiz, ausgerechnet auf den Feldern zu reüssieren, auf denen schon der Vater erfolgreich war. Aber nicht nur die Söhne von Thomas Mann sind damit zwar berühmt, aber nicht glücklich geworden.
Ich habe mich von allem verabschiedet, in was mein Vater Expertise besitzt. „Das nächste äußere Ergebnis dieser ganzen Erziehung war, daß ich alles floh, was nur von der Ferne an Dich erinnerte“, schreibt Kafka an den Vater. Meine Jugendfreunde sind alle Physiker oder Mathematiker geworden, ich habe den Elektrobaukasten in den Müll geworfen, als mir mein Vater mal wieder erklärt hat, wie man richtig lötet. Stattdessen wühlte ich mich im Alter von 15 Jahren durch den „Ulysses“, ohne wirklich zu verstehen, was ich da las. Aber ich konnte sicher sein, dass mein Vater nicht mal wusste, wer James Joyce war.
Nicht zu werden wie mein Vater, wurde in den postpubertären Jahren fast zu einer Obsession. In dieser Zeit habe ich meinen Vater sehr genau beobachtet und mich noch ein wenig genauer. Mittlerweile habe ich den Jähzorn fast unter Kontrolle. Ich habe versucht, Kant und Foucault zu verstehen, und noch härter daran gearbeitet, Fehler einzugestehen und um Entschuldigung bitten zu können. Ich habe versucht, ein liebevoller Vater zu sein.
Noch schwieriger war es allerdings anzuerkennen, dass mein Vater auch gute Eigenschaften hat. Das Talent fürs Handwerkliche habe ich nicht geerbt, aber seine Verlässlichkeit und einen gewissen Sinn fürs Finanzielle.
Es war ein langer Prozess, den ich für abgeschlossen hielt. Am Ende stand jemand, der ein gestörtes, aber halbwegs stabiles Verhältnis zu seinen Eltern aufgebaut hat. Der sich bestenfalls einmal im Jahr in der alten Heimat blicken lässt, Gegenbesuche möglichst auf zwei Tage begrenzt und einmal in der Woche ein Pflichttelefonat absolviert. Ich glaubte, ein Verfahren gefunden zu haben, mit dem ich in der Lage wäre, den Rest unserer gemeinsamen Tage zu überstehen.
Wenn Freunde, deren Eltern gerade gestorben waren, klagten, dass so vieles nicht gesagt worden war, dass sie sich gerne versöhnt hätten, gab ich den Abgeklärten. Hätte auch nichts genutzt, sagte ich. Ich habe meinem Vater alles gesagt, ich habe ihn einen Rassisten genannt und einen lieblosen Klotz. Genutzt hat es nichts.
Es gab keine Entschuldigungen, nicht einmal Erklärungen, und erst recht keine späte Zuwendung.
Formal, ließe sich sagen, habe ich das Verhältnis zu meinen Eltern unter Kontrolle. Emotional nicht. Es tut immer wieder weh, von dem Menschen, dessen Liebe einem einmal das Erstrebenswerte auf der Welt schien, ein Arschloch genannt zu werden. Auch wenn ich nicht der Einzige bin. Auch wenn alles gesagt worden ist. Auch wenn ich weiß, dass ich diese Liebe nicht mehr bekommen werde.
Mehr als drei Jahrzehnte arbeite ich mich an meiner Herkunft ab. Eins habe ich gelernt: Man kann Eltern ablehnen, hassen, verachten. Man kann den Kontakt abbrechen oder ans andere Ende der Welt ziehen. Aber ich kann ihnen nicht kündigen. Selbst wenn sie eines Tages wirklich weg sein sollten, ich werde meine Eltern ein Leben lang nicht mehr los.
■ Anselm Worthik, 49, ist ein Pseudonym
■ Stephanie F. Scholz, 31, ist freie Illustratorin