Abgekochte Jünglinge

Da kann der Gegner schlecht spielen, beste Chancen vergeben, glückliche Siege gibt es nicht mehr im neuen, deutschen Fußballzeitalter. Folglich wird das 2:1 der DFB-Elf im Wembley-Stadion gefeiert

„Ich bin stolz darauf, dass die Mannschaft so gut miteinander kommuniziert“

AUS LONDON ANDREAS RÜTTENAUER

Da stand er nun, der kleine Pjotr Trochowski, ein junger Mann von 23 Jahren, der gerade einmal fünf Länderspiele für Deutschland absolviert hat, und war einfach nur glücklich. Gerade hatte er dabei sein dürfen beim 2:1-Sieg der Deutschen gegen die englische Fußballnationalmannschaft vor knapp 90.000 Zuschauern im nagelneuen Wembley-Stadion zu London. Und was sagte er? „Beckham, Lampard, das sind doch auch nur normale Spieler, die kochen auch nur mit Wasser. Wenn man vor denen Angst hat, sollte man gar nicht erst auflaufen.“

Aha. War damit etwa gemeint, dass auch die deutschen Cheffußballer Michael Ballack, Torsten Frings oder Miroslav Klose, die neben etlichen anderen – Schweinsteiger, Podolski et al. – verletzt fehlten, keine Überspieler sind, dass sie eben deshalb leicht ersetzt werden können. Mit Wasser kochen, das können auch Trochowski oder ein Debütant wie Christian Pander, der sogar das entscheidende Tor schießen durfte. Sollte das alles wirklich so einfach sein?

Am Ende sprachen alle, auch Bundestrainer Joachim Löw, von den zwanzig Minuten, die es gebraucht habe, um ins Spiel zu finden, was besonders schwer gewesen sei, weil die Deutschen erstmals unter Löws Anleitung das bislang als heilig gepredigte 4-4-2-System verlassen haben, mit nur einem Stürmer, Kevin Kuranyi, und einem Fünf-Mann-Mittelfeld gespielt haben. Am Ende redeten alle Deutschen, die sich nach dem Spiel geäußert haben, davon, dass der Sieg die logische Folge der konsequenten Umsetzung der taktischen Vorgaben (Philipp Lahm: „Aus einem kompakten Mittelfeld schnell in die Spitzen spielen“) gewesen sei. Sie sprachen, als hätten sie sich abgesprochen. Die Löw’sche Erfolgsstory sollte also auch in London ihre Fortsetzung finden. Die lebt nicht nur von den Siegen der Mannschaft, die lebt vor allem vom Glauben an den Erfolg der Strategie.

Als sich die Nationalmannschaft Anfang der Woche versammelt hat, da wusste Löw schon, dass er mit neuer Taktik spielen lassen wollte. Er informierte seine Spieler und absolvierte ein paar Trainingseinheiten. Dann stand eine Mannschaft auf dem Platz, die so noch nie zusammengespielt hat, die so nie wieder zusammenspielen wird, und gewinnt auf Englands heiligem Rasen. Lässt sich das wirklich planen? Waren die Deutschen wirklich so gut vorbereitet? Ist Joachim Löw gar ein Genie, der es versteht, eine Mannschaft binnen dreier Tage systematisch umzupolen? Da kickt ein Philipp Lahm, der sonst die Außenbahnen bespielt, plötzlich im defensiven Mittelfeld, zeigt Übersicht im Abwehrverhalten und in der Spieleröffnung Fortune. Er erinnert auch auf seiner neuen Position an die Tage während und nach der WM, an denen man sich gar nicht vorstellen konnte, dass er einmal nicht gut Fußball spielen könnte. Kann man als guter Fußballer, der es versteht, mit Wasser zu kochen, wirklich so schnell umschalten? Oder ist Lahm, auch er gerade einmal 23 Jahre alt, gar ein Genie, zu Recht mit der Kapitänsbinde belohnt, die er tragen durfte, nachdem Bernd Schneider kurz vor Schluss des Spiels ausgewechselt wurde?

Sie selbst, die Spieler und der Trainer, würden sich nie als genial bezeichnen. Seit Beginn der Amtszeit von Joachim Löw vor einem Jahr ist es Usus, immer auch Fehler anzusprechen. Lahm sagt: „Natürlich läuft nicht sofort alles rund.“ Roberto Hilbert: „Natürlich habe ich zwei, drei Fehler gemacht. Daran muss ich arbeiten, ich bin lernfähig.“ Joachim Löw: „Wir müssen weiter arbeiten.“ Und doch reden sie hauptsächlich von sich, von ihrer Arbeit, von ihrer eigenen Leistung. Dass es die Engländer waren, die nach einem furiosen Auftakt und der 1:0-Führung durch Frank Lampard nach zwanzig Minuten plötzlich nicht mehr laufen wollten, ihren einzig immer fleißigen Antreiber David Beckham regelrecht in der Luft haben hängen lassen, ihre Gegenspieler nicht mehr so recht angreifen wollten, mithin dass sie es den Deutschen doch arg leicht gemacht haben, hineinzufinden in ihr neues System, davon wollte keiner so recht reden. Eine Erklärung dafür hatte ohnehin keiner. „Komisch, dass die das gemacht haben“, sagte Team-Manager Oliver Bierhoff, um sofort wieder von den Taten der Deutschen zu schwärmen: „Ich bin stolz darauf, dass die Mannschaft so gut miteinander kommuniziert, dass sie selbst eine Lösung für schwierige Situationen finden kann.“ Da kann der Gegner noch so schlecht spielen, beste Chancen jämmerlich vergeben, glückliche Siege gibt es nicht mehr im neuen, deutschen Fußballzeitalter. Löw und Bierhoff sind die Vorbeter des Fußballglaubensbekenntnisses, in dem vor allem eines regelrecht angebetet wird: der Glaube an die eigene Stärke. Die Spieler scheinen es verinnerlicht zu haben. Sie sind überzeugt davon, besser mit Wasser kochen zu können als andere.