: Als Tote können wir Schmerz abschütteln
WINTERREISE In einer riesigen Blumenwiese verliert sich der Blick aufs Abgründige – Andreas Kriegenburg macht Jelineks „Winterreise“ am Deutschen Theater zu einem Ausflug ins Grüne
VON BARBARA BEHRENDT
Winterreise? Nein, ein Frühlingsspaziergang ist es, den Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater mit seiner ersten Jelinek-Inszenierung unternimmt. Die Bühne ist ein Blütenmeer, durch das fünf Schauspielerinnen in Blumenkleidern wandeln wie Feen in einem bunten Märchenland; mittendrin eine Holzbank und ein schwarzer Flügel. Das alles wirkt wunderschön, surreal und ein wenig bombastisch.
Der Regisseur will der düsteren „Winterreise“ Jelineks, die Schuberts Liederzyklus nachempfunden ist, ein starkes Bild entgegensetzen: Der Schmerz, die Einsamkeit und das unerlöste Begehren kontrastieren mit dem Glück vergangener Frühlingstage. Vielleicht wurde Kriegenburg auch von einem Satz aus Jelineks Text inspiriert, wo es heißt: Nur als Tote können wir den Schmerz abschütteln, und dort, bei den Abgeschiedenen, da „blühen die Blumen wieder, ein Traum, sage ich Ihnen!“ Ein Traum- und Jenseitsbild also?
Elfriede Jelineks „Winterreise“, die den Mülheimer Dramatikerpreis gewann und in Theater heute zum „Stück des Jahres“ gewählt wurde, ist eine für sie typische Textfläche ohne Rollenaufteilung. Einerseits kommen gesellschaftspolitische Themen vor, die man aus früheren Arbeiten kennt: die Perversität der Börse, die abstoßende Öffentlichkeit im Fall Natascha Kampusch, die anonyme, egozentrische Internetgemeinde.
Andererseits wird die Literaturnobelpreisträgerin hier so privat wie nur im Roman „Die Klavierspielerin“: Die Demenz ihres Vaters nimmt viel Raum ein, die Übermacht der Mutter, die Sehnsucht nach Liebe und Sex, ihre Rolle als Schriftstellerin. Und dann noch die Nähe zu Schuberts „Winterreise“, das ihr als Pianistin am Herzen liegt.
Kriegenburg konzentriert sich auf das Psychische: Das Börsenkapitel hat er komplett gestrichen, dafür lässt er Abschnitte über die Liebe und die Krankheit des Vaters fast ungekürzt. Mit seiner Entscheidung, fünf Frauen ins Blumenmeer zu schicken, spaltet er den Jelinek’schen Gedanken- und Gefühlskosmos in fünf autobiografische Stimmen auf. Das kann man machen.
Auch die prachtvolle Wiese beeindruckt zuerst. Susanne Wolff, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica und Judith Hofmann spazieren im warmen Sonnenlicht; am hinteren Bühnenende tanzen ihre Schatten. Blumen werden zu riesigen Bäumen und eine Frau schrumpft zu einem Däumelinchen. Ein Lichtwechsel – und die Landschaft wird zur bedrohlichen Traumkulisse. Diese Stimmungsänderungen sind die wenigen Momente des dreistündigen Abends, die bleiben.
Immerhin: Man kann Kriegenburg nicht vorwerfen, dass er mit dem kitschgefährdeten Bühnenbild von Nikolaus Frinke auf billige Sentimentalität setzt. Aber das Bild dieser Blumenwiese ist übermächtig, die Schauspielerinnen müssen dagegen anspielen. Den Kampf gegen die Plastikblumen verlieren sie. In diesem Ambiente glaubhaft von Leid, Einsamkeit, Vergänglichkeit zu sprechen,ist schier unmöglich. Fast wirkt es grotesk.
Ganz fad wird es nach der Pause, als Maria Schrader unter dem knapp einstündigen Monolog der dementen Vaterfigur einbricht. Ihr einstudiertes Zittern, die verstellte Stimme, mit der sie den armen Opa gibt, hat nichts mit dem in sich selbst verlorenen Menschen zu tun, den Jelinek zeichnet. So unfair es immer ist, eine Aufführung an einer anderen zu messen: Man sehnt sich jetzt nach André Jung aus Johan Simons’ Uraufführung an den Münchner Kammerspielen zurück – ein irrlichternder Greis, das Inbild von Heimatlosigkeit.
Ganz unterschiedlich sind übrigens auch die Münchner und die Berliner Spielfassung und der Umgang mit Musik. Kriegenburg sucht bewusst die Schubert-Zitate im Text und lässt die Lieder an entsprechender Stelle am Flügel an- oder aus dem Off einspielen. Nur am Ende werden die Melodien fragmentarischer. Simons, der das Stück in Auftrag gab, verzichtete ganz auf wiedererkennbare Lieder. Aus dem Börsenkapitel, das bei Kriegenburg ja fehlt, machte er eine grobschlächtige Bauernhochzeit.
Die Sprechkunst der Schauspielerinnen, vor allem von Annette Paulmann und Anita Vulesica, muss man hervorheben. Wie sie es immer wieder schaffen, die Sätze so zu modulieren, dass man sich nicht im Jelinek-Sound verliert, dass man den Wortwitz in jedem Moment greifen kann, das ist schon bemerkenswert. Insgesamt jedoch wirkt der Abend mehr angestrengt als gelungen, ein zu dominantes Bühnenbild und eine überdeutliche Symbolik (Scheren = Schmerz, Gitterbett = Irrenhaus) schaffen immer wieder künstliche Distanz.