Land unter in der Marktwirtschaft
SCHMÖKER Lustvolle Hinhaltetaktik: Die düstere Zukunftsvision „Tage der Flut“ von Frans Pollux ist mit allen erzählerischen Abwassern gewaschen
Frans Pollux ist in den Niederlanden als Musiker bekannt, nun hat er mit „Tage der Flut“ seinen ersten Roman geschrieben: eine düstere Zukunftsvision. Wie Winston Smith in „1984“, der Urmutter aller dystopischen Romane, gerät hier ein Mann namens Syris zwischen die Fronten von Establishment und aufrührerisch Engagierten. Das Establishment ist eine Organisation namens „Engagement“, die für einen Totalitarismus der freien Markwirtschaft steht. Der Freiheitsbewegung hängt auch seine geliebte Frau Marielle an, und so steht Syris bald vor der existenziellen Entscheidung zwischen Job und Familie. In Sippenhaft genommen, muss er in den Folterkellern seines eigenen Arbeitgebers erfahren, dass die große Maschinerie bisweilen ziemlich ruppig mit den kleinen Rädchen im Getriebe umgeht. Und zu allem Überfluss scheinen die Naturkräfte ähnlich den Märkten jedweder Regulierung enthoben; das Wasser steigt auf sintflutartige Höchststände.
Erzähltechnisch raffiniert hat Pollux diesen Agententhriller im Terra incognita zwischen „Waterworld“ und „Minority Report“ konzipiert. Wo Orwell eine chronologische Erzählweise bemühte, muss der Leser hier das Handlungsganze aus den Scherben der Erzählung rekonstruieren. Aber gerade diese Hinhaltetaktik des Autors potenziert die Spannung, welche die ahnungslose Hatz des Handlungsträgers durch die Erzählebene erwirkt. Dieser Autor ist mit allen Abwässern modernen Erzählens gewaschen, dennoch verliert er seine Leserschaft bei diesem Erzähltechnizismus zu keiner Zeit. Pollux gelingt sogar das Kunstwerk, seinen chauvinistischen Antihelden Syris mit so immens vielen Wirkungstreffern des Schicksals einzudecken, dass man ihn schlussendlich doch noch ins Herz schließt.
Daher verzeiht man beim Durchlaufen dieses rasant erzählten Romans auch großzügig das latente Ächzen im Gebälk des dystopischen Überbaus. Denn zugegebenermaßen gewinnt der konzeptuelle Aufriss mit der Verquickung von steigendem Meeresspiegel und freier Marktwirtschaft keinesfalls Innovationspreise, was ebenso für die teilweise holzhammerartig evidenten Bezüge auf gegenwärtige realpolitische Entwicklungen gilt. Auch Freunde der genretypischen Technospekulationen bedient „Tage der Flut“ eher stiefmütterlich. Dem digitalen Zeitalter beispielsweise zieht Pollux einfach mit der Mär vom ultimativen Virus den Stecker, sodass im Handlungsverlauf ganz klassisch wieder Akten verschwinden. So ist „Tage der Flut“ zwar als Science-Fiction-Roman nicht glaubwürdig, aber das mindert die Schmökerqualitäten nicht entscheidend. MORITZ SCHEPER
■ Frans Pollux: „Tage der Flut“. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 19,95 Euro, 408 Seiten