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Archiv-Artikel

„Heute herrscht Trauer“

LIBERTÉ Tausende Franzosen kommen zu Kundgebungen im ganzen Land. Die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ ist zum Symbol geworden. Die Redaktion will weitermachen

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Die Mienen sind ernst, manche Gesichter sogar finster, aber auch entschlossen. Um zwölf Uhr mittags hat Frankreich am Donnerstag aus Solidarität mit den Opfern des terroristischen Anschlags auf Charlie Hebdo eine Schweigeminute eingehalten. In allen Schulen des Landes, in den öffentlichen Verwaltungen, aber auch vielen privaten Unternehmen und Geschäften, in Bahnhöfen oder Metrostationen standen die Leute zum Gedenken an die zwölf Märtyrer der Meinungsfreiheit wortlos zusammen. Die Fahnen hingen auf Halbmast. Vor dem Parlamentsgebäude der Nationalversammlung versammelten sich die Abgeordneten aller Parteien zum stummen Protest gegen den Terror.

Schon wenige Stunden nach dem Attentat gegen die Redaktion des Satireblatts strömten am Mittwochnachmittag Abertausende spontan zum symbolträchtigen Place de la République, der im Zentrum von Paris nur ein paar hundert Meter vom Sitz der angegriffenen Wochenzeitung entfernt liegt. Auch hier war die tief empfundene Betroffenheit und Bestürzung der Menschen in den Gesichtern zu lesen. Dieselben Szenen spielten sich zur selben Zeit in Dutzenden Städten des Landes ab. Tausenden war es ein Bedürfnis, auf die rohe Gewalt zu reagieren und zu sagen, dass der Terror nicht das letzte Wort behalten wird.

Viele haben sich ein Plakat mit dem Slogan „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) ausgedruckt – als Botschaft der persönlichen Solidarisierung. Andere haben frühere Nummern der Satirezeitung mitgebracht, die sie wie Schilder oder Fahnen tragen. Wieder andere halten in der Hand einen Zeichenstift in die Höhe. Der sei „eine stärkere Waffe als eine Kalaschnikow oder eine Bombe“, sagen sie. Und dass das Recht der freien Meinungsäußerung über die „Intoleranz“ triumphieren werde. Dutzende von Jugendlichen sind auf die Statue der französische „Marianne“ geklettert, die die republikanischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verkörpert. Es wirkt, als wollten sie sich so an diese von den Vorfahren so hart erkämpften demokratischen Grundrechte klammern, um sie gegen die Bedrohung zu verteidigen. „Charlie“, rufen sie, und die Menge antwortet mit „Liberté“ (Freiheit). Charlie Hebdo ist zum Symbol der Meinungsfreiheit geworden. Der englische Slogan „Not afraid“ (Wir haben keine Angst) steht in Leuchtbuchstaben auf dem Sockel der Freiheitsstatue geschrieben.

Viele Jugendliche fürchten um ihr Freiheit

Die Versammelten kommen aus allen Schichten und Alterskategorien. Positiv überrascht die enorme Zahl von Jungen, die wahrscheinlich nie selbst ein Exemplar von Charlie Hebdo gekauft hatten, die aber dennoch die ermordeten Karikaturisten gekannt haben oder sich ganz einfach durch den Anschlag auch in ihrer persönlichen Freiheit bedroht fühlen. Allen ist der Wille gemeinsam, die feige Attacke nicht hinzunehmen.

„Diese stellt unsere Grundrechte, vor allem die Meinungsfreiheit und auch die Laizität der Republik fundamental infrage. Ich bin nicht nur konsterniert, sondern auch verzweifelt, ein so feiges Attentat hätte ich nicht für möglich gehalten. Heute herrscht die Trauer vor, morgen werden wir mit politischer Geschlossenheit antworten“, sagt einer der Kundgebungsteilnehmer, der Universitätsprofessor Jean-Henri Gaulois.

Zwei Schritte weiter meint der Student Fred Monnier, für ihn sei dieser Terroranschlag wie „ein 11. September der Medien“. Wie beim Attentat auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 gebe es „ein Vorher und ein Nachher“.

Gefragt nach ihren Motiven, antworten viele, sie hätten angesichts der gravierenden Ereignisse nicht allein und passiv zu Hause bleiben können, es sei ihnen ein dringendes Bedürfnis, ihre Gefühle der Wut, der Trauer und der Solidarität mit anderen zu teilen. Ein junger Mann kommt von selbst, um zu sagen, warum er unbedingt herkommen musste. Wie sein Vater und Großvater wolle er der Gendarmerie beitreten. Als er gehört habe, dass Polizisten in Erfüllung ihrer Pflicht getötet wurden, habe er das als Angriff auf Familienmitglieder und eine Kriegserklärung an sein Land empfunden.

Neben der Empörung macht sich in Paris aber trotz – oder manchmal gerade wegen – des demonstrativ verstärkten Polizeiaufgebots auch eine diffuse Angst breit. Jede Information, jedes im Internet verbreitete Gerücht bekommt eine neue Bedeutung im Zusammenhang mit der terroristischen Bedrohung. Ständig hört man Polizeisirenen, manchmal rast ein Fahrzeug der „Déminage“, der Sondereinheit zur Bombenentschärfung vorbei. Zum Glück handelt es sich um falschen Alarm, der indes ebenfalls bezeichnend ist für die herrschende Spannung.

Eine tödliche Schießerei lässt Schlimmes erahnen

Als das Radio am Vormittag aus dem Außenquartier Montrouge am südlichen Stadtrand von Paris eine Schießerei meldet, bei der nach einem Verkehrsunfall eine Polizeibeamtin getötet und ein anderer Polizist lebensgefährlich verletzt wird, vermuten fast automatisch alle einen neuen Überfall der noch flüchtigen Tatverdächtigen. Der laut Zeugen kahl rasierte und schwarz gekleidete Fahrer konnte fliehen, die Verwirrung war groß.

Hinzu kamen im Verlauf des Tages Meldungen von antimuslimischen Anschlägen. In Le Mans und in Port-la-Nouvelle in Südfrankreich wurde laut Le Figaro auf Gebetssäle geschossen, in Villefranche-sur-Saône explodierte ein Sprengsatz vor einem Kebablokal, das zum Gebäude der Moschee gehört, und im Departement Vaucluse wurde angeblich das Auto einer muslimischen Familie von Schüssen durchlöchert. Verletzte gab es bei diesen Aktionen von Unbekannten nicht, doch sie verstärken die Befürchtung, dass die Muslime in Frankreich von erzürnten Mitbürgern für die Verbrechen der Extremisten mit verantwortlich gemacht werden.

Die gute Nachricht des Tages aber war die Meldung, dass Charlie Hebdo nicht tot ist. Dem Terror zum Trotz soll in Kürze eine Sondernummer erscheinen, dieses Mal sogar in der Rekordauflage von einer Million.