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Archiv-Artikel

Die Bedrohung der zweiten Heimat

Das Wohngebiet Ludwigsfeld im Norden Münchens wird an ein Augsburger Immobilienunternehmen verkauft. Die Bewohner der früheren „Displaced Persons“-Siedlung fürchten nun, zum zweiten Mal in ihrem Leben entwurzelt zu werden

AUS MÜNCHEN GEORG ETSCHEIT

Oljena Batowska war 17, als sie von den Deutschen verschleppt wurde. In einem Viehwaggon wurde sie 1943 aus ihrer ukrainischen Heimat in das feindliche Land gebracht. Im SS-Arbeitslager Allach I, dem größten Außenlager des KZ Dachau, musste sie für die Rüstungsindustrie arbeiten. „Mein Zuhause, meine Schule, alles weg“, sagt die 83-Jährige und man sieht, wie ihre Augen feucht werden. Oljena zeigt ihre „Arbeitskarte“, ein verblichenes Dokument. Darin das Foto eines jungen Mädchens mit Kopftuch und der Nummer 999. Bei der SS musste alles seine Ordnung haben.

Nach ihrer Befreiung durch die Amerikaner fand sie als „Displaced Person“ (DP) in München eine neue Heimat. So nannte man ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, Vertriebene und Staatenlose, die nicht zurück in ihre Heimat konnten. Oljena Batowska konnte nicht zurück in die Ukraine, weil die Russen Zwangsarbeiter als Nazi-Kollaborateure betrachteten und nach Sibirien schickten.

1953 wurde ausgerechnet auf dem ehemaligen Gelände des SS-Arbeitslagers in Ludwigsfeld im Norden Münchens eine Wohnsiedlung für DPs errichtet. Dorthin zog Oljena. Bis heute lebt sie in der Siedlung. Auch wenn sie immer noch Heimweh hat, fühlt sie sich wohl unter den anderen Entwurzelten und ihren Nachfahren. Vier Generationen wohnen hier zusammen, 1.600 Menschen in knapp 700 Wohnungen, Menschen aus 50 Nationen. Doch jetzt fürchtet Oljena, dass ihr und den anderen noch einmal die Heimat genommen werden könnte.

Angst vor Mieterhöhung

Denn vor kurzem sind in ihrer kleinen Wohnung Leute von der Patrizia AG vorbeigekommen. Die Patrizia macht den Menschen in der Siedlung Angst. Denn das Augsburger Immobilienunternehmen verdient sein Geld vor allem damit, Wohnungen zu kaufen und zu verkaufen. Gerade hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), Eigentümerin der Siedlung Ludwigsfeld, die Immobilie an den Wohnungshändler verkauft. Ganz in trockenen Tüchern scheint der Handel zwar noch nicht zu sein. Zumindest wollen sich heute noch einmal die Berichterstatter des Haushaltsausschusses aller Parteien mit dem Fall befassen. Doch unter den Bewohnern geht die Angst um, dass die Patrizia die Mieten so stark in die Höhe treiben könnte, dass sich viele eine neue Bleibe suchen müssten. Und die einzigartige Gemeinschaft der Entwurzelten langsam, aber sicher zerstört würde.

Die Siedlung Ludwigsfeld lag früher weit vor den Toren Münchens, weil man befürchtete, die oft an Tuberkulose oder anderen ansteckenden Krankheiten leidenden DPs könnten den Bürgern der Stadt gefährlich werden. Heute liegt sie inmitten des Siedlungsbreis, der das Gesicht des Münchner Umlands prägt. Auf den ersten Blick sieht die Ansammlung schlichter Reihenhäuser nicht besonders vertrauenerweckend aus. Doch wenn man genauer hinschaut, merkt man, mit welcher Liebe hier alles gepflegt wird. Die Vorgärten vor den Häusern sind mit bunten Blumen und Tomaten bepflanzt. An vielen Hauswänden rankt wilder Wein. Und auch die Rasenflächen mit den großen, alten Bäumen sind ordentlich geschnitten. „Der Bund hat 50 Jahre fast nichts investiert“, sagt Johannes Thiel, der lange Zeit Hausmeister der Siedlung war. Deshalb hätten die Bewohner alles in Eigenregie saniert, bepflanzt und gepflegt.

Ruhig und friedlich ist es hier draußen. Nur der Lärm der nahen Autobahn dringt herüber. Hier reparieren ein paar Jugendliche gerade ein Auto, dort wird ein kleines Grillfest gefeiert. Ein „gelungenes Modell für Integration“ nennt Petra Gründwald die Siedlung Ludwigsfeld, in der sie 27 Jahre als städtische Sozialarbeiterin gearbeitet hat. 14 Religionsgemeinschaften gibt es hier, eigentlich genug Anlass für Streitereien. Doch alle hielten zusammen. „Die Leute sind unheimlich tolerant“, bestätigt Anatolij Kiritschenko, der in der Siedlung einen Obst- und Getränkeladen betreibt. „Hier kann man einen Ausländerwitz erzählen, ohne dass einem das krummgenommen wird.“ Sogar einen buddhistischen Tempel gibt es in der Siedlung. Den hat schon zweimal der Dalai Lama besucht. Und Ende Juli war der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko hier, dessen Vater im Dachauer Außenlager inhaftiert war.

Der Streit über den Verkauf der Siedlung schwelt schon seit Jahren. Zunächst wollte die Stadt München die Immobilie übernehmen, die der Bund loswerden wollte, bot jedoch nur 1,5 Millionen Euro. Dann trat der mittelständische Münchner Bauunternehmer Max Kerscher auf den Plan, dem die Bewohner viel Hoffnung entgegenbrachten. Er sicherte zu, die soziale Struktur der Siedlung zu bewahren und auf Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen zu verzichten. „Ich hätte daraus wieder eine Mustersiedlung gemacht“, sagt Kerscher, der auch alte Wirtshäuser aufgekauft und renoviert hat, um sie zu erhalten. Auf eine kurzfristige Rendite hätte er nach eigenen Angaben verzichtet. Doch mit 8,5 Millionen Euro fiel auch sein Gebot zu niedrig aus. Schließlich kam die Patrizia ins Spiel. Irene Jazenko von der Interessengemeinschaft Ludwigsfeld (Iglu) glaubt, dass bei dem Handel einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Vor allem die gewaltige Diskrepanz zwischen dem einstigen Gebot der Stadt und dem aktuellen Verkaufspreis von 10,5 Millionen kann niemand verstehen. Der Münchner SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Berg weist darauf hin, dass der Bund verpflichtet sei, wegen der desolaten Haushaltssituation den besten Preis zu erzielen, weil es sonst Probleme mit dem Rechnungshof gebe.

Auf die Politiker sind die Ludwigsfelder sowieso nicht mehr gut zu sprechen – obwohl Oberbürgermeister Christian Ude glaubt, dass in den Verhandlungen mit der Patrizia das Optimum herausgeholt werden konnte. Alle Mieter erhielten einen lebenslangen Kündigungsschutz, Umwandlungen in Wohneigentum seien erst nach 15 Jahren möglich, und auf „Luxussanierungen“ wolle die Patrizia verzichten. Damit seien die wesentlichen Forderungen der Mieter und des Stadtrates erfüllt und die Bewohner der Siedlung „die rechtlich am besten gestellten Mieter Münchens“.

Stefania Dykowicz war im Alter von 15 Jahren aus Galizien nach Deutschland verschleppt worden. Drei Monate, hieß es, sollte das ukrainische Mädchen in dem fremden, feindlichen Land arbeiten. 1942 kam sie auf einen Bauernhof nach Landshut. Dort musste sie schuften, für einen Hungerlohn. Aus drei Monaten wurden drei Jahre Zwangsarbeit. Genauer gesagt wurde daraus ein ganzes Leben. Denn wie Oljena Batowska konnte sie nicht mehr zurück in ihre Heimat und blieb in Ludwigsfeld hängen.

Viel Geld hat sie nicht, wie die meisten Menschen in der Siedlung; viele leben von staatlicher Stütze. Stefania bekommt 530 Euro Rente im Monat. Das muss reichen zum Leben. 184 Euro gehen allein für die Miete drauf. „Da bleibt wenig für Kleider und unerwartete Ausgaben“, sagt die alte Frau. Auch eine geringfügige Mieterhöhung könnte Stefania nur schwer verkraften. Deshalb hat Iglu-Sprecherin Jazenko nur grimmigen Spott für den Verkauf der Siedlung übrig. Schließlich könne man die Menschen auch über reguläre Mieterhöhungen vertreiben. Zwar sind die Mieten mit 2,70 Euro pro Quadratmeter inklusive Nebenkosten konkurrenzlos billig – der Münchner Durchschnitt liegt bei 11 Euro. Doch könnten, so Jazenko, auch kleine Beträge den meisten Ludwigsfeldern das Genick brechen.

Potenzial der Siedlung

Beatrix Zurek, Vorsitzende des Münchner Mietervereins, hätte sich noch eine Begrenzung der möglichen Mieterhöhungen gewünscht, findet den Schutz der Ludwigsfelder vor Unternehmerwillkür sonst aber gar nicht so schlecht. Trotzdem sei es bedauerlich, „dass der Bund sich von solchen Beständen trennt und unter den Mietern Unsicherheit sät“. Denn eines sei sicher: Irgendwann werde die Patrizia auf das Potenzial der Siedlung zurückgreifen.

Die Siedlung Ludwigsfeld ist mehr als ein gewöhnliches Renditeobjekt. Sie ist sozusagen ein lebendiges Museum der Zeitgeschichte. Hier steht noch eine der Baracken des ehemaligen SS-Arbeitslagers, in denen Tausende an Hunger, Krankheit und Erschöpfung ums Leben kamen. In dem niedrigen Steinbau sind heute die Dusch- und Umkleideräume des TSV Ludwigsfeld untergebracht. Außen an der Baracke hängt eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Opfer. Geschichte ist auf Schritt und Tritt gegenwärtig.

Der Händler Anatolij Kiritschenko wird richtig wütend, wenn er an den Ausverkauf der Siedlung denkt. Er ist froh über die niedrigen Mieten, weil seine Kundschaft langsam auszusterben droht. „Zu mir kommen vor allem die Alten, die Jungen fahren doch alle in den Supermarkt.“ Falls die Patrizia auch ihm irgendwann die Daumenschrauben ansetze, müsse er wohl dichtmachen. Dann gäbe es in der Siedlung wieder einen Laden weniger. Und einen Ort, in dem man zwanglos einen Plausch unter Nachbarn halten kann. Direkt neben seinem Geschäft will die Patrizia bald ein Büro aufmachen. Anatolij glaubt, dass die Immobiliengesellschaft nur an den wertvollen Grundstücken im boomenden Münchner Umland interessiert sei. „Die wollen hier doch alles platt machen.“ Seine letzte Hoffnung ruht jetzt auf den Haushaltspolitikern im fernen Berlin. Doch die Chance, dass noch jemand die Notbremse ziehen könnte, ist gering. „Ich glaube nicht, dass da noch etwas zu machen ist“, meint der sozial eingestellte Bauunternehmer Kerscher. „Langfristig wird die Siedlung zertrümmert, was sehr schade ist.“