Freibeuter an den Urnen

PARTEIENLANDSCHAFT Der Erfolg der Piratenpartei in Berlin schlägt SPD, Linken und Grünen im Norden aufs Gemüt. Sie befürchten, dass die Piraten bei ihnen ebenso mächtig wildern. Gegenrezepte haben sie nicht

In den fünf norddeutschen Bundesländern war ein Aufwärtstrend der Piraten bisher nicht festzustellen: Bei allen Wahlen der vergangenen zwei Jahre schnitt die Partei schlechter ab als bei der Bundestagswahl 2009.

■ Schleswig-Holstein: Bei der Landtagswahl 2009 erhielt sie 1,8 Prozent (2,1 bei der gleichzeitig durchgeführten Bundestagswahl).

■ Hamburg: Bei der Bürgerschaftswahl im Februar 2011 erreichte sie 2,1 Prozent (2009: 2,6). Vertreten ist sie in den Bezirksversammlungen von Hamburg-Mitte mit zwei und von Hamburg-Bergedorf mit einem Abgeordneten.

■ Bremen: Dort kam sie bei der Bürgerschaftswahl im Mai auf 1,9 Prozent (2009: 2,4).

■ Mecklenburg-Vorpommern: Bei der Landtagswahl am 4. September erreichte sie 1,9 Prozent (2009: 2,3).

■ Niedersachsen: Bei den Kommunalwahlen am 11. September kam sie landesweit auf 1,0 Prozent. Damit enterte sie 60 Gemeinde- und Stadträte sowie Kreistage (2009: 2,0 Prozent).

Ungewohnt wortkarg sind Sozialdemokraten, Grüne und Linke in Norddeutschland, wenn es um die Bewertung des Wahlergebnisses in Berlin geht. Denn die Lage der Dinge ist verzwickt: Die Linke hat verloren, die SPD verlor zwar auch, gewann aber trotzdem und die Grünen haben zwar gewonnen, fühlen sich aber so, als ob sie verloren hätten. Da tröstet nicht einmal ansonsten wohlfeile Häme über das Debakel der FDP. Und dann gibt es noch die Neuen, die sich definitiv als Sieger betrachten können: Die Piratenpartei bringt die rot-rot-grüne Seite des Parteienspektrums in Erklärungsnot.

Hamburgs SPD-Chef und Bürgermeister Olaf Scholz sieht als „zentrale Botschaft“ der Berliner Wahl, dass die WählerInnen in Großstädten „der SPD vertrauen“. Diese Einschätzung hat er bei einem SPD-Ergebnis von unter 30 Prozent exklusiv. Niedersachsens SPD-Chef Olaf Ließ wittert rot-grüne Morgenluft für die Landtagswahl Anfang 2013 – vor allem aber, weil FDP-Chef Philipp Rösler Niedersachse ist. Und die Linke im Norden ist seit Sonntagabend flächendeckend sprachlos.

Die Piratenpartei hat bei SPD, Grünen und Linken in Berlin kräftig gewildert. 54.000 WählerInnen hat sie den dreien abgenommen und damit die Linke in die Opposition geschickt und Rot-Grün nur noch eine denkbar knappe Mehrheit gelassen. Die Angst, dass ihnen das auch passieren könnte, hat vor allem die Grünen in Schleswig-Holstein befallen, wo am 6. Mai 2012 gewählt wird. „Es gab eine Reihe von Fehlern im Wahlkampf, aus denen wir lernen müssen“, erklärt Fraktionschef Robert Habeck vieldeutig. „Wir werden das Ergebnis genau analysieren und die nötigen Schlüsse ziehen.“

Hinter vorgehaltener Hand räumen Hamburger Grüne ein, dass ein Ergebnis „unter dem Bundestrend“ in der Hauptstadt „nicht überzeugend ist“. Die Übereinstimmung von „konkreten Themen und personeller Performance“ habe nicht gestimmt. „Das hatten wir im Februar schon in Hamburg und jetzt wieder in Berlin – das geht nicht“, sagt ein prominenter Grüner. Dass die Piraten massiv Wähler der Grünen angelockt haben, müsse zu „einem neuen modernen Wahlkampf führen“. Schließlich habe auch der grüne Parteichef Cem Özdemir eingeräumt, bei den Piraten-Plakaten sei „das eine oder andere dabei gewesen, das ich mir auch bei den Grünen hätte vorstellen können“.

Aktuell liegt die Piratenpartei in den norddeutschen Ländern auf der Lauer, um bei nächster Gelegenheit auch dort die Parlamente zu entern. Dieses Phänomen besorgt den Hannoveraner Soziologen Oskar Negt. „Wenn Großparteien sich in einer Weise zersetzen wie die FDP und gleichzeitig die Piratenpartei auf knapp neun Prozent kommt, ist das auch für die Demokratie eine Schicksalsfrage“, sagte der 77 Jahre alte emeritierte Professor der DPA: „Man muss dann schon fragen, was am bestehenden Parteiensystem falsch ist.“

„Man muss schon fragen, was am bestehenden Parteiensystem falsch ist“

OSKAR NEGT, SOZIOLOGE

Immerhin einen Fehler hat Schleswig-Holsteins FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki bereits analysiert: Die FDP habe momentan „generell verschissen“. SVEN-MICHAEL VEIT