Jeder lebt in seiner Blase

THEATER Veränderung schien möglich, dann drehten sich die Parallelwelten weiter: Roland Schimmelpfennigs neues Stück „Das schwarze Wasser“ in Mannheim

VON JOACHIM LANGE

Es ist unversehens ein Stück zur „Je suis Charlie“-Stunde geworden. So nimmt man das wahr, bei der Premiere kurz nach den Anschlägen von Paris. Dabei geht es nicht um Mord und Totschlag. Blut kommt hier nur als Nasenbluten vor. Das „schwarze Wasser“ im Titel des Stücks von Roland Schimmelpfennig ist eine poetische Projektionsfläche für Träume, auch von Leyla, Murat, Karim, Mehmet und Aishe. Die leben mitten in der deutschen Großstadt-Welt von Frank, Cynthia, Freddy, Olli und Kerstin. Und doch in einer Parallelwelt. Sie begegnen sich zufällig, verlieren sich aus den Augen und einige laufen sich nach zwanzig Jahren zufällig wieder über den Weg. Und wieder sind ihre Welten voneinander getrennt.

Roland Schimmelpfennig gilt als derzeit meistgespielter deutscher Gegenwartsdramatiker. Seine „Arabische Nacht“, „Das Gesicht im Spiegel“ und zuletzt „Der Goldene Drache“ hatten auch schon als Opernversionen (von Christian Jost, Jörg Widman und Peter Eötvös) Erfolg. Die Bühnenpräsenz kann man nachrechnen. Die Sache mit der Gegenwart nachprüfen. Beim Dramatiker ist es so wie bei Jelinek, Pollesch und anderen auch: man muss sich auf seine Methode einlassen. Schimmelpfennigs Art der Auflösung von Rollenzuschreibungen lässt die Akteure auf der Bühne ihre Figuren gleichsam immer wieder von außen betrachten, wenn einem Satz dieses „Sagt der Mann“, „Meint die Frau“ folgt. Diese in den Text integrierten Quasi-Szenenanweisungen zeichnen unmittelbar den Weg vom literarischen zum theatralischen Text nach.

Im besten Fall lässt das den Zuschauer dabei zusehen, wie ein Sound entsteht, der eine ganze Welt imaginiert. Oder wenigstens einen Teil davon. Und sich so zugleich vom hintergründigen boulevardesken Wort-Ping-Pong à la Yasmina Reza oder Lutz Hübner unterscheidet.

Bei der Uraufführung des im Auftrag der „Frankfurter Positionen 2015“ entstandenen Stückes „Das schwarze Wasser“ am Nationaltheater Mannheim führt dessen Schauspielchef Regie. Hatte Burkhard C. Kosminski im letzten Jahr noch bei seinem Ausflug auf die Opernbühne in Düsseldorf wegen überstarker Bebilderung für einen veritablen Tannhäuser-Skandal gesorgt, bleibt er jetzt ganz der minimalistisch gebändigte Diener seines Autors.

Die Bühne von Florian Etti beschränkt sich auf eine Wellblechwand. Unmerklich und unbeirrt bewegt die sich in den 90 Minuten auf die Rampe zu und verkleinert so zunehmend den Raum für die sechs Schauspieler. Diese Dynamik des Unausweichlichen kennzeichnet auch das Stück. Katharina Hauter, Ragna Pitoll, Anke Schubert, Boris Koneczny, Reinhard Mahlberg, David Müller teilen sich die sechzehn Rollen und springen ständig zwischen ihnen hin und her. Da wird die Zeit zum Raum, denn das schwarze Wasser ist ein Stück über die vergehende Lebenszeit. Es sind die ungefähr zwanzig Jahre, die zwischen den beiden Zeitebenen im Stück liegen. Da ist ein melancholischer Grundton vorgegeben.

Wenn die beiden Gruppen junger Menschen, deren Vornamen hier genügen sollen, um auf ihre Herkunft, das Wohnviertel und ihre sozialen Chancen zu verweisen, eines Sommernachts im Schwimmbad aufeinandertreffen, kommt es nicht zu der erwartbaren Klopperei, sondern zu einer eher utopischen Nacht in einem Paradies der Träume und der Liebe. Die keiner vergessen wird. Eingewoben in den Text, in dem so kurz die Möglichkeit der Überwindung von Grenzen aufscheint, sind die Momente nach zwanzig Jahren. Mit den vorhersehbaren Karrieren. Als Erfolgsanwalt, Schuldirektorin oder kurz vorm Amtseid stehender Minister bei den einen, als Kassiererin im Supermarkt oder Dönerbudenbesitzer bei den anderen. Man (er-)kennt sich noch, hilft sich sogar (der Anwalt dem bedrängten Dönermann).

Dass aber Leyla und Frank nicht zusammenkommen konnten, wird als so unvermeidlich erzählt wie die vorgezeichneten Biografien. Und wenn Frank (der künftige Minister) Leyla (von der Supermarktkasse) nach zwanzig Jahren zufällig auf der Straße im Regen trifft und sie nach Hause bringt, dann ist es genau die gleiche Wohnung wie vor zwanzig Jahren.

Dort entdeckt er an der Wand ein Foto mit einem jungen Mann, der fast so aussieht wie er. Dass der wohl sein Sohn sein könnte, ist eine von den kleinen Fußangeln in diesem hellsichtigen und doch deprimierenden Text, dessen Poesie geschickt mit dezent dosiertem Wortwitz durchzogen ist und ganz unspektakulär ohne Katastrophen auskommt.