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Archiv-Artikel

„Das Matterhorn des kleinen Mannes“

42.195 METER Er war Joschkas Trainer: Laufexperte Herbert Steffny erklärt, warum die Kenianer am Sonntag beim Berlin-Marathon wohl kaum zu schlagen sein werden und ob das etwas mit Doping zu tun haben könnte

Berlin-Marathon

■ 40.963 Läufer, 6.572 Inline-Skater, 152 Handbiker und 41 Rollstuhlfahrer nehmen am 38. Berlin-Marathon teil. Um 9 Uhr am Sonntag starten die LäuferInnen auf den 42,195 Kilometer langen Rundkurs. Die beiden aktuellen WeltrekordlerInnen, der Äthiopier Haile Gebrselassie (2:03:59 Stunden) und die Engländerin Paula Radcliffe (2:15:25) gehören zum Favoritenkreis. Dem kenianische Vorjahressieger Patrick Makau (Bestzeit: 02:04:48), der Deutschen Irina Mikitenko (02:19:19) sowie der Halbmarathon-Weltmeisterin Florence Kiplagat aus Kenia werden ebenso Siegchancen eingeräumt. Für die deutschen LäuferInnen geht es auch um das Unterbieten der Olympianorm für London 2012. Bei den Männern liegt sie bei 02:12 Stunden, bei den Frauen bei 02:30. Der Lauf wird in 150 Länder live übertragen. Die Veranstalter rechnen mit einer Million Zuschauer an der Strecke.

■ Herbert Steffny, 58, gewann bei der Europameisterschaft 1986 im Marathon die Bronzemedaille. Nach seiner Karriere verfasste er mehrere Laufbücher und arbeitet zudem als Trainer.

INTERVIEW JENS UTHOFF

taz: Herr Steffny, was macht Joschka Fischer?

Herbert Steffny: Den hatte ich neulich auf meinem Anrufbeantworter.

Hat er noch mal Ambitionen, einen Marathon zu laufen?

Das glaube ich weniger. Ich war überrascht, von ihm zu hören. Ich hab ihn aber noch nicht erreicht.

Zuletzt wirkte er nicht mehr allzu marathontauglich.

Ja, als ich ihn bei seinem 60. Geburtstag vor drei Jahren sah, war ich über seine Verfassung nicht so erfreut.

In besserer Verfassung sind die beim Berlin-Marathon startenden Kenianer. Sie waren kürzlich in Kenia – wie müssen wir uns das Training dort oder in Äthiopien vorstellen?

Ich wollte mir die Wurzeln dieses Laufwunders, wie wir es am Sonntag in Berlin wieder erleben werden, ansehen. Das ging dann los mit den Trauben von Kindern, die auf der Straße neben einem herlaufen, über die Cross-Meisterschaften, die dort stattfinden, bis hin zur Ernährung, zur Lebensweise, zum Hochland.

Die Übermacht der Afrikaner ist also in der Kultur begründet?

Das hat vor allem gesellschaftliche Gründe wie soziale Motivation. Zudem sind in Kenia Alternativen, gerade im Sport, nicht so gegeben wie bei uns. Wieso muss ich unbedingt den qualvollen Weg in den Hochleistungssport nehmen, wenn ich auch über ein Studium oder andere Kanäle gesellschaftliche Anerkennung bekommen kann? In Kenia ist Marathon eine der wenigen Möglichkeiten, reich zu werden.

Können die Europäer trotzdem von den Kenianern lernen?

Es gibt viel mehr Konkurrenzsportarten in Deutschland und Europa, allen voran der Fußball. Über den Laufboom haben wir vor allem die Generation jenseits der 30 auf die Straße gekriegt. Die Jüngeren wollen schnell zum Erfolg kommen. Da entspricht ein trainingsintensiver Marathon auch nicht dem Zeitgeist.

Dennoch: Extremsportarten sind beliebt. Könnte das nicht zu einer neuen Marathonelite in Deutschland führen?

Am läuferischen Talent kann’s nicht liegen. In den Achtzigern hatten wir 35 Läufer, die den Marathon unter 2:20 Stunden gelaufen sind, im Moment nicht einen einzigen. Ich hoffe, dass der Laufboom der mittleren Generation, den es in den letzten zehn Jahren gab, auf die Kinder überspringt.

Für die Leichtathletik-WM in Daegu haben sich vom 5.000-Meter-Lauf aufwärts keine deutschen StarterInnen qualifiziert. Was läuft beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) falsch?

In den Wurfdisziplinen sind wir gut, da haben wir viel Know-how. Die Konkurrenz ist weltweit eben im Laufen die größte, da spezialisiert man sich auf die weniger umkämpften Bereiche.

Der Berlin-Marathon ist so gut besetzt wie kaum zuvor. Was trauen Sie den WeltrekordhalterInnen Haile Gebrselassie und Paula Radcliffe zu?

Ohne Haile und auch Paula Radcliffe zu nahe treten zu wollen, die beiden haben meines Erachtens ihren Zenit überschritten. Bei den Männern sehe ich aber den Kenianer Patrick Makau vorne – der Titelverteidiger ist der Mann der Zukunft.

Und bei den Frauen? Was trauen Sie Irina Mikitenko zu?

Wir haben mit Radcliffe und Mikitenko absolute Weltklassefrauen im Feld, gewinnen werden aber beide nicht. Florence Kiplagat, auch Kenianerin, könnte es packen. Irina Mikitenko ist eine routinierte Läuferin, an der muss man erst mal vorbei. Natürlich wird sie noch mal alles geben, sie ist jetzt 39 Jahre alt, so viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Und wenn sie wirklich bei Olympia laufen will, kann sie sich jetzt qualifizieren. Dahinter würde ich aber ein Fragezeichen setzen.

Warum?

Peking 2008 hat sie schon abgesagt, zum Berlin-Marathon im selben Jahr ging es aber wieder. Im letzten Jahr bei der WM in Berlin hätte sie sich unsterblich machen können – auch da hatte ich wenig Verständnis, dass sie nicht gestartet ist.

Die Neuregelung des Internationalen Leichtathletikverbandes IAAF bei den Frauen-Marathons sorgt derzeit für Unruhe.

Ja, die IAAF will zwischen gemischten Rennen, Männern und Frauen, und reinen Frauenläufen differenzieren. Die Frauenrekorde sollen nur noch dann Gültigkeit haben, wenn sie in Frauen-only-Wettbewerben gelaufen werden. Bei gemischten Läufen will die IAAF nur noch von „Bestzeiten“ sprechen.

Wie bewerten Sie das?

Das schafft nur Verwirrung und ist auch nicht angemessen. Die Marathons untereinander sind ohnehin nicht vergleichbar, die Strecken sind ja auch unterschiedlich. Und dass die großen City-Marathons nun alle zwischen den Geschlechtern trennen, glaube ich nicht.

Unvermeidlich: Welche Rolle spielt Doping heute in der Marathonelite? Anfang des Jahres wurde die litauische Europameisterin Zivile Balciunaite erwischt, ansonsten ist es im Marathon vergleichsweise ruhig.

Doping wird immer eine Rolle spielen, im Marathon allerdings nicht in dem Maße wie im Sprint oder Kugelstoßen. Man kann meines Erachtens mit hartem Training im Marathon mehr erreichen als in anderen Sportarten.Trotzdem gab es in Spanien die Giftküche von Eufemio Fuentes Rodriguez, die hat ja überall im Profisport gewütet. Warum die spanischen Sportler dann später auf einmal nicht mehr laufen konnten, wirft ja Fragen auf.

Gab es das bei den zwischenzeitlich erstarkten Italienern auch?

Francesco Conconi, der in Italien wegen Sportbetrugs verurteilt wurde, hat zugegeben, dass man mit Blutdoping schon operiert hätte – ohne Namen zu nennen. Aber generell ist Doping nicht das dominierende Problem wie im Radsport. Haile Gebrselassies Leistungen und seine Entwicklung etwa sind vollkommen nachvollziehbar.

Was glauben Sie, wie es bei Freizeitläufern aussieht? Selbst da soll mittlerweile viel manipuliert werden.

Da werden immer viele Zahlen in den Raum geworfen – generell glaube ich auch schon, dass insbesondere die älteren Freizeitläufer und -läuferinnen mal zu Substanzen greifen, weil sie die abnehmende Leistungsfähigkeit nicht akzeptieren wollen.

Die Zahl der Hobbyläufer beim Marathon nimmt dennoch ab. Ein Zeichen der Vernunft?

Aus Trainersicht sehe ich es positiv, dass der Halbmarathon zunehmend attraktiver für Läufer wird. Dabei bleibt der Marathon das Matterhorn des kleinen Mannes, aber er bedarf einer gründlichen und sorgfältigen Vorbereitung. Da können die 21,1 km für Freizeitläufer, die diese Vorbereitung nicht leisten können, die bessere Alternative sein.

Eine angemessene Marathonvorbereitung scheitert bei vielen ja schon an der Zeit, die sie beansprucht.

Ja, von daher ist es vernünftig – andererseits ist man in manchen Kreisen auch erst richtiger Läufer, wenn man einen Marathon gelaufen ist. Nicht meine Meinung – jeder, der joggt, macht genug für seine Fitness.