: Schwabenstreich Berlin
Wie in der alten Sage wollen sie den Bahnriesen niederstrecken – mit Töpfen und Trillerpfeifen
■ Schwabenstreich Berlin
Jeden Mittwoch, um 18.45 Uhr vor dem DB-Tower am Potsdamer Platz.
■ Kreativstammtisch
Ebenfalls jeden Mittwoch, abends nach dem Protest, an wechselnden Orten. Diesen Mittwoch 5. Oktober ab 20 Uhr, in der Regenbogenfabrik, Lausitzer Str. 22.
■ Im Netz
Der Begriff „Schwabenstreich“ hat positive und negative Bedeutungen. Verbindet man mit ihm im deutschen Sprachraum eine törichte Handlung, bezieht er sich im schwäbischen Raum auf eine wagemutige Tat. Die schwäbische Verwendung hat ihren Ursprung in der Sage des Dichters Johann Ludwig Uhland. Sie erzählt die Geschichte eines tapferen Ritters, der sich von seinem Heer zurückgelassen allein gegen gegnerische Soldaten zur Wehr setzt. Als er einen seiner Widersacher mit einem Hieb von Kopf bis Fuß spaltet, lassen die restlichen Feinde eingeschüchtert von ihm ab.
Seit Juli 2010 findet der Begriff auch im politischen Kontext Anwendung, genauer: bei den Protesten gegen das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. „Schwabenstreich“ lautet der Name einer Protestaktion, die der Schauspieler Walter Sittler und der Regisseur Volker Lösch in Stuttgart initiierten. Das Konzept der Aktion ist simpel: Jeder, der sich am der Aktion beteiligen will, soll exakt um 19 Uhr eine Minute lang „infernalisch laut sein“, unabhängig davon, wo er sich gerade befindet. Seitdem vergeht in Stuttgart kaum ein Tag, an dem der Stuttgarter Talkessel um diese Uhrzeit nicht von Trillerpfeifen oder Topfgeschepper erfüllt ist.
Aber nicht nur in Stuttgart wird gelärmt. Sittler und Lösch riefen dazu auf, in ganz Deutschland Schwabenstreiche zu organisieren. In Düsseldorf, Dresden, Hamburg und Göttingen findet die Aktion seitdem regelmäßig statt. Sogar auf dem Time Square in New York versammelten sich 24. August 2010 SympathisantInnen zum lautstarken Protest. In Berlin wird ebenfalls regelmäßig auf Krach gemacht. Jeden Mittwoch treffen sich ExilschwäbInnen und Aktive, die sich für mehr direkte Demokratie einsetzen, vor der Bahnzentrale am Potsdamer Platz. Dort wird dann Stimmung gegen Stuttgart 21 gemacht und sich mit den Protestierenden im Süden solidarisiert. „Wir wollen den Protest zu Rüdiger Grube bringen“, erklärt Ingrid Wörner, Mitglied der Gruppe „Schwabenstreich Berlin“, die die Aktion in Berlin organisiert.
Der erste Berliner Schwabenstreich fand Ende August 2010 als Reaktion auf den Abriss des Nordflügels des alten Kopfbahnhofs statt. Nach Ansicht der Gruppe handelt es sich bei Stuttgart 21 um mehr als ein regionales Bauprojekt. Stuttgart 21 betrifft alle deutschen BürgerInnen. Zum einen wird das Projekt aus dem Bundeshaushalt finanziert, zum anderen wird in Stuttgart „der Bürgerwille mit Füßen getreten“, erklärt Wörner. Und das gehe schließlich alle was an.
Deshalb mobilisiert die Gruppe regelmäßig zum Potsdamer Platz. Vor dem Bahntower wird aber nicht nur gelärmt, sondern auch über die aktuelle Lage in Stuttgart informiert und die Probleme der Berliner S-Bahn thematisiert. Für die Gruppe ist es ein Rätsel, wie es möglich sein kann, dass sich die Bahn in Stuttgart so spendabel zeigen kann, während sie in Berlin an allen Ecken und Enden spart. „Die Bahn schafft es nicht mal, die S-Bahn instand zu halten, wie will sie Stuttgart 21 in den Griff bekommen?“, kommentiert die Aktivistin die Situation in Berlin. Wegen der Nähe zum Thema engagieren sich einige Mitglieder der Gruppe beim Berliner S-Bahn-Tisch, der sich für eine zuverlässige, bezahlbare, sichere und kundenfreundliche S-Bahn einsetzt.
Vor allem nach dem 30. September 2010, dem sogenannten Schwarzen Donnerstag bekam die Gruppe großen Zulauf. Aufgrund der Bilder von der gewaltsamen Räumung des Parks um den Bahnhof durch die Stuttgarter Polizei, bei dem es hunderte Verletzte gab, schlossen sich knapp 1.000 Menschen den Protestkundgebungen an, die damals auch vor dem Hauptbahnhof stattfanden. Prominente Politiker wie Cem Özdemir und Claudia Roth von den Grünen sprachen auf den Kundgebungen. In der vergangenen Woche erinnerte die Gruppe mit einer Gedenkkundgebung an das Ereignis.
Über die Kundgebungen hinaus beteiligte sich die Gruppe am Kultur-Protest-Sonderzug aus Stuttgart, in dessen Rahmen 600 AktivistInnen aus Stuttgart in Berlin mehrere Protestaktionen durchführten. Unter anderem versuchten sie am Kanzleramt einen Baum zu pflanzen und trafen sich mit allen Bundestagsfraktionen. Auch helfen sie den AktivistInnen aus Stuttgart bei dem Erstellen von Infomaterial oder Webseiten und nehmen an Infoveranstaltungen in der Region teil.
Wer den Schwabenstreich Berlin unterstützen möchte, ist natürlich dazu aufgerufen, zu den wöchentlichen Kundgebungen zum Potsdamer Platz zu kommen und sich lautstark an dem Protest gegen Stuttgart 21 zu beteiligen. Darüber hinaus kann bei der Erstellung von Informationsmaterial und bei der Koordinierung des Schwabenstreichs geholfen werden. „Unsere Kapazitäten sind begrenzt, daher freuen wir uns über jeden, der helfen will“, erklärt Wörner. Nur durch eine große Beteiligung kann gewährleistet werden, dass auch dieser Schwabenstreich einen ähnlich heldenhaften Ausgang wie in der Sage des Ritters findet. LUKAS DUBRO