: „Oft stinken die Seelen“
RITUAL Sukhbaatar Tughsbayar ist ein junger Schamane aus der Mongolei. Ein Gespräch über Schutzgeister, Natur und Krankheit
■ Jahrgang 1993, ist mongolischer Schamane. Er ging bis zur 8. Klasse auf eine deutschsprachige Grund- und anschließend auf eine Privatschule. Er studierte an der Eisenbahn-Hochschule (heute Institut für Transport genannt).
INTERVIEW HELMUT HÖGE UND STEPHAN THIEL
taz: Herr Tughsbayar, wie wurden Sie eigentlich Schamane?
Sukhbaatar Tughsbayar: Mit 7 Jahren habe ich meine Kräfte gefühlt, aber ich hatte damals noch kein Verständnis dafür, was Schamanismus überhaupt ist. Mit 12 Jahren war ich dann so weit und habe mit 13 als Schamane angefangen. Schon als Kind hatte ich sehr interessante Ideen in meinem Inneren, ich habe Dinge von der anderen Seite gesehen und wahrgesagt. Und diese Dinge wurden dann auch oft Realität.
Was meinen Sie damit?
Ich fühlte sehr oft Energien, sah auch die Seelen von verstorbenen Menschen, fühlte sie wie einen vorbeistreichenden Wind. Oft stinken die Seelen auch. Sie sehen aus wie ein Tornado, aber dazwischen sieht man etwas. Manchmal kann ich darin die Gesichter der Verstorbenen, manchmal die Haare erkennen, so wie sie in dem Moment aussahen, als sie gestorben sind. Manchmal sehen sie aber auch wie Tiere aus, wie ein Adler oder ein Geier. Es gibt gute und böse Seelen. Und es gibt Schutzgeister, bei denen ist das nicht so. Seelen lernen und denken auch nicht. Schutzgeister sind anders, die haben auch viel mehr Energie und Kapazitäten als Seelen.
Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Als ich mit 13 Jahren Schamane wurde in der Mongolei, da gab es nicht so viele Schamanen, das waren meist alte Männer und Frauen. Damals wurde mit Vater schwer krank, meine Mutter versuchte Hilfe von anderen Schamanen oder von buddhistischen Lamas zu bekommen. Und die sagten: „Euer Sohn ist etwas Besonderes. Er muss ein Schamane werden, einen Lehrer finden und die Rituale machen. Wenn er Schamane wird, dann wird auch sein Vater gesund werden.“ Vater und Kind haben ja eine gemeinsame Verbindung, als mein Vater krank wurde, bekam ich auch Probleme mit meinen Beinen.
Und wie haben Sie Ihren Lehrer gefunden?
Mein Lehrer war der Schwager meines Vaters. Ich konnte also meinen Lehrer wählen, viele andere müssen ihn erst finden. Der Familienbezug war ja da und ich habe ihm schon als Kind viel zugehört. Er hat mit mir Tests gemacht, hat seine Kostüme angelegt und mir seine Werkzeuge gezeigt. So habe ich viel geübt und meine Fähigkeiten verbessert. Ich hatte die große Hoffnung meinen Vater zu heilen und ein wichtiger Schamane zu werden.
Wie kommuniziert der Schamane mit der anderen Welt?
Wenn ein Schamane ein Ritual vollzieht, begegnet er seinem Schutzgeist. Schutzgeister haben anders als Seelen sehr viel Energie. Sie haben meist die Gestalt eines Menschen, werden aber oft von Tieren begleitet, wie einem Pferd, Wolf oder Bären. Das sind gewissermaßen die Transportmittel der Schutzgeister. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass mehrere Schutzgeister kommen.
Wie viele Schutzgeister können denn erscheinen?
In früheren Zeiten – nicht nur in der Mongolei –, als die Menschen noch in Stämmen lebten, da hatte ein Stamm fünf Schamanen. Da konnten dann auch gleichzeitig mehrere Schutzgeister kommen. Mein Schutzgeist nähert sich mir meist im Sturm, in einer Wolkenformation. Ich habe einmal ein Foto von ihm gemacht.
Sie sprechen viel von Natur und Tieren. Welches Verhältnis hat der Schamane denn zur Natur?
Der Schamane ist sehr eng mit der Natur verbunden und mit der Frage beschäftigt, wie wir mit ihr umgehen sollen. Früher lebten die Menschen enger mit der Natur zusammen, und der Schamanismus betont: Man muss mit der Natur kommunizieren. Der Schamanismus will die Natur ausbalancieren, zum Beispiel wenn es Hochwasser oder Dürre gibt, dann haben Schamanen die Möglichkeit, das zu ändern.
Was ist die Ausrüstung eines Schamanen?
Jeder Schamane hat seine eigenen Kostüme und eine Trommel, auf der er einen eigenen Rhythmus spielt. Das Trommeln und den Gesang nutzt er, um mit seinem Schutzgeist zu kommunizieren.
Können Sie ein Beispiel sagen, wo und wie Sie schamaniert haben?
Ja, nahe dem See Terkhiin Tsagaan Nuur, dort in den Bergen lebten Nomaden, und ich wurde gerufen, damit ich durch meinen Ritus mit dem Berggeist kommuniziere, um sie vor Naturkatastrophen zu schützen. Ich habe ein Foto davon hier. Während des Ritus kamen schwarze Wolken, ich habe sie in zwei Teile gespalten, und so zog der Regen an uns vorbei. Jeder Schamane hat seine eigenen Kapazitäten, aber die meisten können das Wetter beeinflussen.
Wie sieht ein schamanischer Ritus bei Ihnen aus?
Ich kann etwa über glühende Kohlen laufen oder Glut in meinen Mund nehmen. Es passiert auch, dass ich während eines Ritus zu schweben anfange oder Sprünge bis zu zehn Meter mache. Schamanen planen so etwas nicht, das passiert ganz spontan, ich mache das auch nicht selbst, das macht der Schutzgeist. Ich erinnere mich danach an nichts, ich bin vollkommen in Trance. Entscheidend ist jedoch der Ort, an dem man sich aufhält, hier in Berlin sind zum Beispiel meine Kräfte schwächer als zu Hause.
Woher kommt das?
Ich bin erst seit fünf Tagen hier. Wenn ich durch Berlin fahre, dann sehe ich schon, dass man versucht – und das selbst an Baustellen –, die Bäume zu schonen. Im Tiergarten habe ich meine Ringe auf die Erde fallen lassen, daraufhin habe ich meinen Schutzgeist gehört: „Nimm deine Ringe von der Erde, sie vergiftet deine Ringe.“ Das habe ich nicht verstanden, da doch alles so schön grün war. Da hat mir mein Schutzgeist erklärt: Diese Pflanzen werden chemisch gedüngt, damit sie schneller wachsen. Die Natur will normalerweise, dass die Pflanzen mit den Insekten zusammenleben. Aber hier waren kaum Insekten. Darum kann die Natur nicht ins Gleichgewicht kommen.
Und hilft da eines Ihrer Rituale?
Ein Ritus führt etwa dazu, dass sich ein Berggeist beruhigt, denn Berggeister können sehr böse werden. In der Mongolei gibt es viele Bergwerke. Die Geschäftsmänner profitieren davon, aber die normalen Menschen haben Nachteile dadurch. Vor einigen Jahren sprach mich ein Mann an, der in einem Bergwerk nahe des Flusses Tuul, der durch Ulaanbaatar fließt, arbeitete. Dort wurde Gold gefördert. Jeden Tag, als er zur Arbeit ging, fühlte er sich schlecht, zu Hause aber wieder besser. Ich begleitete ihn zu seiner Arbeitsstelle. Dort fühlte ich, dass der Berggeist sehr böse wegen des Eingriffs war. Ich habe andere Arbeiter gefragt. Denen ging es ähnlich. Aber der Inhaber meinte nur: Ihr müsst hier weiterarbeiten, ihr könnt ja auch gutes Geld dabei verdienen. Dann wird auch euer Leben besser. Ich musste dann eine Entscheidung treffen. Mehrmals vollzog ich einen Ritus, um mit dem Berggeist zu kommunizieren. Ich wollte den Menschen nicht ihre Arbeit nehmen, aber der Schacht musste irgendwann dichtgemacht werden. Während des Rituals begann dann schwerer Regen. Als ich mehrere Monate später an den Ort zurückkehrte, hatte man den Schacht aufgegeben. Die Natur hat sich den Schacht zurückgenommen.
Sie kommunizieren viel mit Ihrem Schutzgeist, es gibt aber auch andere Menschen, die Stimmen hören und sehr darunter leiden. Was meinen Sie dazu?
Es gibt viele Menschen, die Schamanen werden könnten, aber sie haben das Phänomen nicht verstanden oder sie bekamen keine Chance, ihren Geist wie ein Schamane auszubilden. Dann ist es sehr schwierig. Sie werden im Alter isoliert. Oft landen sie auch in der Psychiatrie mit der Diagnose Schizophrenie. Die Adoleszenz ist nach meiner Meinung die wichtigste Periode, um seinen Schutzgeist zu finden. Danach wird es sehr schwierig. In vielen entwickelten Ländern gibt es solche Menschen und auch in der Mongolei gab es viele vor der Wende. Die Rückkehr des Schamanismus konnte da Hilfe bieten. Bei älteren Menschen ist es aber nach wie vor problematisch, da sie nicht mehr die Energie haben, diese Kapazitäten zu entwickeln. Das mit dem Stimmenhören muss man aber unterscheiden, das kann auch vollkommen normale Menschen treffen, das muss nicht unbedingt etwas mit schamanistischen Phänomenen zu tun haben.
Übersetzung: Dondog Batjargal