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Archiv-Artikel

Kommunikative Finte

betr.: „Kardinal Meisner und die ‚entartete Kunst‘. Der Kalif von Köln“, taz vom 17. 9. 07

Was wäre passiert, wenn Meisner nicht „entartet“, sondern „fragwürdig“ gesagt hätte? Nichts. Dass er vor ein paar Wochen das Richter’sche Domfenster durch sein Fernbleiben adelte, rührte ja kaum jemanden wirklich. Da musste also noch mal was nachgelegt werden. Insofern, erst mal Respekt vor der kommunikativen Finte des Erzreaktionärs, auf die wir alle reinfallen, die wir uns jetzt mit seinen Ansichten auseinandersetzen. Müssen wir das? Ja. Denn das mittlerweile ziemlich beunruhigende Wiedererstarken nationalistischer und religiöser Positionen, die man nun mit Fug und Recht als reaktionär bezeichnen darf, da sie tatsächlich Reaktionen darstellen, macht die Auseinandersetzung wohl dringend notwendig.

Dass Meisner sich die Kunst als Zielscheibe seiner rückwärts gewandten Kulturkritik vornimmt, ist dabei weder falsch noch ungeschickt. Tatsächlich kann man sich ja fragen, ob Kunst wirklich und auf Dauer als Religionsersatz taugt – mit dem modernen Kunstverständnis maßt sie sich das nicht nur an, sondern erfüllt tatsächlich exakt diese Funktion für viele, die sich heute produzierend, konsumierend oder kritisch mit ihr auseinandersetzen. Das Unwohlsein an der kapitalistischen Moderne mit ihrer zum Teil antihumanistischen und den Individualismus propagierenden Ideologie kommt nicht von ungefähr und wird von vielen, auch von mir, so empfunden.

Meisners Provokation wird vermutlich Früchte tragen, weil wir, die Verfechter einer Kultur, für die wir eigentlich keinen Namen haben (moderne, eigene, kapitalistische, säkulare, tolle, irgendwie?), auch keine Antwort darauf haben, wie mit diesem Unwohlsein ohne Flucht in Mystizismus oder Konsumismus umgegangen werden kann.

Im Augenblick halten wir uns an der Vorstellung fest, dass die Antworten schon von alleine kommen werden, dass sich das allgemeine Sinndefizit individuell und im freien Austausch regulieren wird. Das kann man – wenn man etwas boshaft sein möchte – auch neoliberal nennen. Und damit aus meiner Perspektive als Teil des Problems bezeichnen, dem wir das aktuelle religiöse und nationalistische Rollback verdanken. PETER WITT, Düsseldorf

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