: berliner szenen Es hat geregnet
Augenblick der Scham
Der Idiot steht vor dem Woolworth in der Karl-Marx-Straße, er hält eine geöffnete Bierflasche in der Hand. Er ist angezogen wie ein Idiot. Er steht da wie ein Idiot. Er lacht wie ein Idiot. Es hat eben geregnet, die Spuren des Regens trocknen gerade. Die Spätsommersonne ist warm, es trocknet schnell. Nur von der Woolworth-Markise tropft es noch.
Der Idiot nun stellt sich unter die Markise, genau dorthin, wo es tropft. Er lässt es sich auf die Glatze tropfen, rechts und links läuft es am schütteren Resthaar herunter. „Seht her“, ruft der Idiot, „seht her, haha, frisch, haha.“ Sein Lachen ist nicht echt, er sagt das „Haha“ eher, als dass er sein Zwerchfell anstrengt. Kaum jemand beachtet ihn. Auch ich sehe ihm nur zu, weil ich vor dem Woolworth warte und mich an den Schaufenstern des Woolworth und am vorbeirauschenden Verkehr schon sattgesehen habe. Ich beobachte ihn allerdings so, dass er nicht merkt, dass ich ihn beobachte. Es gibt kaum Schlimmeres, als Idioten, die merken, dass man ihren Idiotien Aufmerksamkeit schenkt. Kinder und Idioten, die Aufmerksamkeit finden, machen sich weiter zum Affen, ohne Rücksicht auf Würde und Anstand. Das ist ein ehernes Gesetz. Leider.
Doch nun hält der Idiot plötzlich inne. Er geht schnell auf Abstand zur Markise, wischt sich, deutlich unwirsch geworden, die Glatze, stellt das Bier ab. Alle falsche Fröhlichkeit ist aus ihm gewichen. Er setzt sich nun, beinahe neben mich, auf die Bank. Er wirkt ernüchtert. Und will trinken, hält jedoch in der Bewegung inne, senkt den Arm und schaut auf die Flasche. Dann schüttelt er noch mal den Kopf. Und geht schnell von dannen. Die Flasche nimmt er mit, aber nun versteckt er sie, so gut er kann, vor denen, die ihm entgegenkommen.
JÖRG SUNDERMEIER