: Ein bisschen Leben
MEDIZIN Nur 595 Gramm wog Niklas bei seiner Geburt. Die Ärzte gaben ihn mehrmals auf. Seine Odyssee zeigt, was falsch läuft in der Versorgung von Frühchen in Deutschland. Es geht um Macht und Geld
■ Die Frühchen: Im Jahr kommen in Deutschland rund 8.000 Frühgeborene zur Welt. International gelten als extreme Frühchen Kinder, die vor der 33. Schwangerschaftswoche geboren werden und weniger als 1.500 Gramm wiegen. Den Frühchen zugerechnet werden zudem Kinder unter 2.500 Gramm, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden.
■ Die Kliniken: Rund 140 Krankenhäuser dürfen derzeit hierzulande Frühchen behandeln – um die Qualität zu gewährleisten nur Kliniken, die pro Jahr mindestens 14 Frühgeborene pflegen: die sogenannte Mindestmengenregelung.
■ Der Streit: Eigentlich wollten Ärzte und Krankenkassen eine noch strengere Regelung erreichen, indem die Mindestmenge auf 30 Geburten pro Jahr hochgesetzt wird. Dies würde ihrer Ansicht nach die Zahl schwer kranker und toter Kleinkinder verringern. Doch kleinere Kliniken blockierten dies Anfang 2011 durch einen vorläufigen Gerichtsentscheid. Anfang 2012 entscheidet das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg. Das Ringen um Mindestmengen für Kliniken zählt zu den klassischen Auseinandersetzungen im Gesundheitssystem, beispielsweise auch bei Organtransplantationen.
AUS BERLIN UND MANNHEIM MATTHIAS LOHRE UND BERND HARTUNG (FOTOS)
Das Erste, was Laura Herteux nach der Geburt von ihrem Sohn sieht, ist ein Foto. Eine Schwester bringt es ihr ans Bett, als sie aus der Narkose erwacht. Herteux schaut auf ein Wesen mit Haut wie Seidenpapier. So dünn, dass Adern und Organe durch sie hindurchschimmern. Selbst unter Frühchen ist Niklas nach 25 Wochen ein Winzling, 23,5 Zentimeter klein. Herteux’ Sohn sieht aus wie ein aus dem Nest gefallenes Küken. Er wiegt nur 595 Gramm, so viel wie eine halb aufgetrunkene Milchpackung.
Vor seiner Geburt haben die Ärzte Herteux zweimal gesagt, ihr Kind werde wohl sterben – zuletzt am Tag vor der Entbindung im sechsten Monat. Niklas überlebt. Doch auch nach seiner Geburt machen die Mediziner der Mutter immer noch keine Hoffnung. Sieben Mal wird sie in der Klinik hören, ihr Sohn werde es wohl nicht schaffen. Sie hat sich jedes einzelne Mal gemerkt.
Tausende Eltern erleben in Deutschland jedes Jahr einen ähnlichen Horror. Viele verlieren ihr zu früh geborenes Kind, oder es überlebt nur mit massiven, oft lebenslangen Gesundheitsschäden.
Der Mann, der sagt, dass viele dieser Tode vermieden werden könnten, dächten manche Kliniken nicht zuerst an ihr Profil und ans Geld, sieht aus, wie sich Eltern einen Kinderarzt wünschen. Mit seiner ruhigen Stimme und den Segelohren wirkt der Mediziner wie ein netter Duzonkel. Rainer Rossi, 56 Jahre, ist Chefarzt der Kinderklinik am Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln. Insgesamt 128 Kinder unter 1.500 Gramm Geburtsgewicht wurden dort im vergangenen Jahr behandelt. Und allein 47 unter 1.000 Gramm. Extreme Frühchen wie Niklas.
Rossi ist auch Sachverständiger für Frühgeborenenbetreuung. Im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen mischt er mit im Gemeinsamen Bundesausschuss, in jener Arena, in der Kassen, Ärzte, Krankenhäuser und Patientenvertreter um Geld und Macht im Gesundheitssystem ringen. Ihre Waffen sind Gutachten und Studien. Aus Menschen werden Patienten, Teile einer Statistik. Deshalb sind Rossis Mittel im Kampf für eine bessere Frühchenversorgung auch Zahlen.
Laura Herteux ist 21 Jahre alt und eine Frau, die Ruhe ausstrahlt. Wenn sie lacht, hebt und senkt sich ihr ganzer Körper.
Nach der Geburt lässt Herteux Niklas sofort taufen. Zu Hause richten sie bewusst kein Zimmer für ihn ein. Lange fürchten die Eltern, dass sie das Zimmer einmal an einen Menschen erinnern könnte, der nie hier gelebt hat.
Rainer Rossi zeigt auf seinem Laptop eine Powerpoint-Präsentation, Vergleichszahlen der OECD. Demnach starben 2006 in Deutschland fast vier von 1.000 lebend geborenen Säuglingen. In Schweden waren es weniger als drei von 1.000. „Das heißt“, sagt Rossi, „in Deutschland sterben jedes Jahr etwa 600 bis 650 Säuglinge, die bei einer Säuglingssterblichkeitsrate wie in Schweden überleben würden.“ Er klappt seinen Laptop zu und lässt die Zahlen wirken.
„Wir können viel dafür tun, diese Sterblichkeit zu vermeiden. Dafür brauchen wir eine wirksame Mindestmengenregelung und die Zentralisierung der Geburtskliniken“, sagt Rossi. Die Mindestmenge besagt, wie viele Frühchen ein Krankenhaus in einem Jahr behandelt haben muss. Je höher sie ist, umso erfahrener und spezialisierter sind Ärzte und Schwestern in der Behandlung dieser Kinder.
Der Mann, der das verhindern will, ist ein imposanter grauhaariger Herr mit kernigem Händedruck. Seine klaren Worte bringen Rudolf Kösters schon mal in Schwierigkeiten. Ein Fernsehinterview zu den Frühchen brach sein Pressesprecher vor Kurzem bei laufender Kamera ab.
Rudolf Kösters steht als Präsident an der Spitze der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Der mächtige Dachverband der Kliniken wehrt sich gegen höhere Mindestmengen. Kösters wirkt wie eine Art Horst Seehofer mit münsterländischem Zungenschlag. Sein Job ist es, die Interessen von 2.080 kleinen und großen Kliniken unter einen Hut zu bringen. Das Ergebnis sind politische Kompromisse, nicht medizinische Sachurteile. „Wir wollen keine Zuweisungsmedizin wie in der DDR“, sagt Kösters und schüttelt den Kopf. Der konservative Katholik führte lange einen Verbund kirchlicher Kliniken. „Wenn nur noch große Zentren Frühchen versorgen dürften, führte das unterm Strich zu einer schlechteren Versorgung.“ Davon, die Zahl der behandelten Frühchen pro Klinik zu erhöhen, hält er nichts. „Ich bin vehement gegen Mindestmengen. Studien legen zwar einen Zusammenhang nahe, aber sie sagen nicht, wo.“ Er zweifelt die Verbindung an, die Rossi sieht.
Die Schwangerschaft ist für Laura Herteux ein Schock. Sie nimmt doch die Pille, ihr Studium der Sozialkunde soll gerade losgehen, und ihr Freund und sie wohnen nicht einmal zusammen. Gemeinsam mit ihm, dem jungen Koch, entscheidet sie, das Kind zu bekommen. Trotz allem.
Anfang Januar kommt sie wegen einer Schwangerschaftsvergiftung in eine Klinik, nicht weit entfernt von ihrem Wohnort in Franken. Es dauert ein paar Tage, bis sie versteht: Nicht nur ihr Ungeborenes schwebt in Lebensgefahr, auch sie selbst. Den Namen des Krankenhauses will Herteux nicht veröffentlicht sehen. Sie wird die Mediziner dort vielleicht noch brauchen. Aber als Herteux sie am dringendsten gebraucht hätten, waren sie wohl überfordert.
Um solche Schicksale geht es Rainer Rossi. Er glaubt an die Macht des Arguments, und das beste lieferte ihm vor drei Jahren das IQWiG. Das Institut, eine Art TÜV des Gesundheitswesens, wertete 2008 im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses Studien zur Frühchenversorgung aus. Es kam zum Schluss: Zwar ergebe „sich insgesamt kein völlig einheitliches Bild. Allerdings weisen die Daten in der Gesamtschau auf einen statistischen Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und der Ergebnisqualität bei VLBW-Kindern hin, dergestalt, dass sich bei höherer Leistungsmenge die Ergebnisqualität verbessert.“ Leistungsmenge, das ist in der Sprache der Gesundheitsbürokraten die Zahl der behandelten Kinder. VLBW steht für „very low birth weight“, Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm.
Auch das Krankenhaus, in das Herteux eingeliefert wird, hat eine geringe Leistungsmenge. Angaben, wie viele Frühchen unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht sie pro Jahr behandelt, macht die Klinik nicht. Vermutlich würden striktere Mindestmengen das Aus für ihre eher kleine Frühchenabteilung bedeuten.
Rossi hält das Ergebnis der IQWiG-Studie für eindeutig. Die Frühchenversorgung auf relativ wenige Kliniken zu konzentrieren, bringe Erfolg: „In Bundesländern mit vielen Stationen ist die Säuglingssterblichkeit höher als in Ländern mit weniger Stationen“, sagt Rossi.
Seit Veröffentlichung der Studie sprechen sich immer mehr Experten für Mindestmengen aus. Selbst der mächtige Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses Rainer Hess, der selten offen Partei ergreift. „Wenn es um die Schwächsten, also in diesem Fall die Frühchen geht, dann muss auch mal eine vergleichsweise dünne wissenschaftliche Basis für eine Entscheidung ausreichen“, sagte er.
Tagelang dämpfen Medikamente Laura Herteux’ Geburtswehen. Das Kind soll im Mutterleib wachsen, so lange wie irgend möglich. Schließlich erhält Herteux eine Kortisonspritze, sie beschleunigt die Lungenreifung des Ungeborenen. Dann der Kaiserschnitt. Mutter und Kind überleben. Doch das Schlimmste liegt noch vor ihnen.
Jetzt könne sie nur warten, bis das Kind stirbt
Laura Herteux muss damit rechnen, dass ihr Sohn erblindet. Oder dass er irreparable Hirnschäden erleidet. Oder beides.
Frühchen haben ganz eigene Bedürfnisse. Viele brauchen eine genau auf sie abgestimmte Sauerstoffzufuhr. Aus Niklas’ Hals ragt ein Plastikschlauch. Ein Beatmungsgerät pumpt so Luft in seine Lungen. Tag und Nacht. Dabei kann es auf ein Prozent Sauerstoff mehr oder weniger in der Atemluft ankommen. Fehler können die Lungen schädigen, das Hirn. Manche sterben.
Niklas’ Mutter teilen die Ärzte in der fränkischen Klinik mit, die Überlebenschancen ihres Sohns liegen bei fünf bis zehn Prozent. Irgendwann sagen sie ihr dann, sie wüssten auch nicht weiter. Jetzt könne sie nur noch warten, dass ihr Kind stirbt.
Herteux ist verzweifelt. An den Abenden, wenn sie die Klinik verlassen hat, weint sie. Niemand soll ihre Schwäche mitbekommen, auch Niklas nicht.
Nach Erscheinen der IQWiG-Studie, die einen Zusammenhang zwischen Expertise des Klinikpersonals und Überlebenschancen der Frühchen nahelegte, handelte der Gemeinsame Bundesausschuss. Seit Januar 2010 gilt: Nur Kliniken, die pro Jahr mindestens 14 Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm behandeln, dürfen dies auch künftig tun.
Kinderärzten wie Rossi genügt das nicht. Ihre Rechnung: Je mehr Kinder pro Klinik, desto besser ergeht es den Babys. Deshalb beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss vergangenes Jahr: Ab 2011 sollte die Zahl der mindestens betreuten Kleinsten erneut steigen, von 14 auf 30 pro Jahr. Dann kam es zum Eklat.
Rund 30 kleinere Kliniken klagten gegen die Erhöhung der Mindestmenge. Im vergangenen Januar gab das zuständige Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ihren Eilanträgen statt: Die Richter urteilten, für kleinere Kliniken bestünden große Unwägbarkeiten. Sie bezweifelten, dass planbar sei, wann und in welcher Klinik Frühchen geboren würden. Denn die Versorgung Frühgeborener resultiere aus einer „Notfallsituation, der Planbarkeit im herkömmlichen Sinne abgehe“. Bis zu einer Grundsatzentscheidung des Gerichts bleibt alles wie zuvor. Dieses Urteil sollte Ende des Sommers fallen, nun ist es aufs kommende Jahr verschoben.
Der Herr der Krankenhäuser hat sich vorerst durchgesetzt. „Von rund 2.080 Kliniken in Deutschland dürfen weniger als 150 Frühchen versorgen“, sagt Rudolf Kösters. „Es ist deshalb Quatsch zu sagen, das dürfe jedes Krankenhaus machen.“ Wäre die neue Mindestmenge in Kraft, wären noch etwa 90 spezialisierte Kliniken übrig.
Frühchenexperte Rossi hält die Haltung des Gerichts für Unfug. Er klappt seinen Laptop wieder auf, klickt ein paar Mal. „Ah, hier ist’s.“ Er zeigt auf eine Grafik: Frühgeburten zeichneten sich in neun von zehn Fällen bereits mehrere Tage zuvor ab. Die allermeisten werdenden Mütter erhielten ein bis zwei Tage vor der Geburt ein Kortisonmedikament, um die Lungenreifung beim Frühchen zu fördern. So war es auch bei Niklas. Ein bis zwei Tage: genug, um werdende Mütter in die für sie richtige Klinik zu verlegen. Im viel dünner besiedelten und zugleich größeren Schweden klappe das reibungslos, sagt Rossi.
Der Krankenhauslobbyist Kösters befürchtet in den Kommunen einen Schneeballeffekt: „Wenn kleine Kliniken, die auch Frühchen versorgen, schließen müssen, dann ziehen auch Hebammen und Kinderärzte aus dem jeweiligen Landkreis weg“, sagt er. „Dann leidet auch die Versorgung der restlichen Kinder im Kreis.“
Laura Herteux gibt ihren Sohn nie auf, auch, als die Ärzte es tun. Sie weiß selbst nicht genau, warum. Vielleicht, sagt sie, habe ihr das Beispiel ihrer Mutter geholfen. Sie hat ihre Tochter alleine großgezogen. Irgendwie geht es immer weiter.
Auf eigene Faust sucht Herteux nach Auswegen. Die Abende verbringt sie in ihrer kleinen Wohnung vor dem Computer. Im Internet stößt sie auf die Betroffenenorganisation „Das frühgeborene Kind e. V.“. Dort erhält sie einen Tipp: Die Uniklinik in Mannheim habe einen exzellenten Ruf bei der Behandlung von Frühchen mit Atemwegserkrankungen. Herteux hat noch nie davon gehört. Sie ruft an und beschreibt einem Arzt Niklas’ Lage. Die Mediziner fordern die Patientenakte an. Danach geben auch sie dem Frühchen nur eine Überlebenschance von fünf bis zehn Prozent. Aber sie sind bereit, es zu versuchen.
Am Abend, bevor Niklas per Hubschrauber von Franken nach Mannheim fliegt, trinkt Laura Herteux drei Gläser Sekt, um trotz ihrer Aufregung schlafen zu können. Niklas’ letzte Chance ist gekommen. Er ist jetzt elf Wochen alt.
Es geht in dem Streit zwischen Rainer Rossi und Rudolf Kösters’ Lobby um Leben wie das von Niklas, und es geht um Geld. „Kinderkliniken machen einen erheblichen Teil ihres Umsatzes mit den Frühgeborenen“, sagt Rossi. Hinzu kommt: „Geburten und Neugeborenenversorgung sind ein wichtiger Wirtschafts- und Imagefaktor für Krankenhäuser.“ Kliniken werben mit ihren Geburtsabteilungen. Ländliche Regionen wollen den Wegzug junger Eltern verhindern.
Üben Landräte tatsächlich aus Imagegründen Druck aus, dass lokale Kliniken möglichst alle medizinischen Leistungen anbieten, auch Frühchenversorgung? Die Antwort des Präsidenten der Krankenhausgesellschaft bestätigt das, wenn auch indirekt: „Da geht es weniger um Landräte als um Oberbürgermeister“, sagt Kösters. „Frühchenversorgung ist eher eine Sache von größeren Städten.“
Zum ersten Mal draußen – nach sieben Monaten
Laura Herteux setzt sich auf eine Couch. Ihre schwarzweißen Sneakers berühren kaum den Boden. Hier, im Elternzimmer der Kinderintensivstation an der Uniklinik Mannheim, hängen gerahmte Grüße dankbarer Eltern: Fotobeweise der Entwicklung von kleinen Knäueln im Brutkasten zu lachenden Kindern. Herteux wird bis zum Abend hier sein, wie an fast jedem Tag dieses verregneten Sommers. Die Station ist ihre zweite Heimat geworden, medizinische Fachbegriffe beherrschen ihren Alltag.
Der Flug nach Mannheim hat Niklas das Leben gerettet, davon ist Herteux überzeugt. Was genau seine kleinen Lungen dazu brachte, sich endlich etwas zu öffnen, das konnten ihr die Ärzte auch nicht so genau sagen. Egal. Ihr Sohn lebt.
Vor ein paar Wochen trug die Mutter Niklas ins Freie. Sie zeigte ihm das Klinikgelände vor der Intensivstation. Die Sonne schien aufs Gesicht des Kleinen, aus seinem Hals ragte ein Plastikschlauch und aus der Nase eine Magensonde. Eine Sommerbrise wehte ihm um die braunen, dünnen Haare. Der winzige Patient war zum ersten Mal in seinem Leben an der frischen Luft, er war da schon sieben Monate alt.
Herteux hat nicht vergessen, dass ihr Kind in der Heimat beinahe gestorben wäre. „Die Ärzte dort haben alles getan, was in ihrer Macht steht“, sagt sie trotzdem. „Aber wenn ich weiß, dass ich nichts mehr tun kann, versuche ich es doch nicht mit Gewalt. Sondern ich suche mir Hilfe.“
Befürworter von Mindestmengen fordern, die Krankenhäuser sollten ihre kleinen Patienten an spezialisierte Kliniken abgeben. Wenn die Lage der Kinder stabil ist, könnten sie deren weitere Versorgung übernehmen. Oft dauert diese Jahre.
Aber wären die normalen Kliniken zur spezialisierten Versorgung überhaupt noch in der Lage? Würden sie nicht dringend benötigtes Know-how einbüßen, wie Kösters befürchtet?
„In Deutschland gäbe es auch bei einer Mindestmengenregelung immer noch mehr teure Neugeborenen-Intensivstationen als in unseren europäischen Nachbarländern“, sagt Rossi. „Das ist nicht nur ökonomisch unsinnig, sondern nicht einmal besonders sicher für die Kinder – siehe Schweden.“ Dort leiste das Gesundheitssystem bessere Arbeit, und das mit niedrigeren Kosten. „Geschulte Geburtsmediziner, Kinderchirurgen und andere Spezialisten kosten viel Geld“, argumentiert der Chefarzt. Da ergebe es wenig Sinn, wenn man sie an möglichst vielen unterschiedlichen Kliniken einsetze, wo sie dann entsprechend wenig arbeiten.
Noch etwas kommt hinzu: Die Pflege eines besonders kleinen Babys unter 1.000 Gramm Geburtsgewicht bringt der Klinik 60.000 bis 100.000 Euro, in manchen Fällen sogar bis zu 130.000 Euro. Und das unabhängig von den tatsächlichen Kosten, denn die Kassen zahlen für die Behandlung Fallpauschalen nach Gewicht. Das heißt: Ist das Baby weitgehend gesund und muss lediglich wachsen, kostet die Betreuung wenig. Dann verdient die Klinik eine Menge Geld.
Rudolf Kösters, der Krankenhaus-Mann, weiß, dass er in dieser Geschichte der Buhmann ist. Geld gegen Kinderleben, so etwas bringt schlechte Presse. Wohl auch deshalb bietet der Präsident der Krankenhausgesellschaft erstmals einen Kompromiss an: „Für die ganz Kleinen, die weniger als 750 Gramm wiegen, kann man über Zentren nachdenken.“ Also für Kinder wie Niklas.
Laura Herteux geht die wenigen Schritte hinüber in Niklas’ Zimmer. Durch eine breite Fensterfront scheint Spätsommerlicht hinein. Drei kleine Intensivpatienten liegen hier in weißen Betten. Drei Babys, deren Gesichter hinter Beatmungsschläuchen und Magensonden fast verschwinden. Kontrollmonitore geben ihr beruhigendes Piepen ab, eine Krankenschwester prüft, ob der Sauerstoffanteil in der Atemluft der Kleinen stimmt. In ihren Semesterferien wohnt Heurteux in einem „Elternhaus“ nahe der Klinik.
Niklas ist wach. Als er seine Mutter sieht, strampelt er mit seinen langen weißen Beinen. Daheim, sagt Laura Heurteux, richten sie bald das Kinderzimmer ein.
■ Matthias Lohre, 35, taz-Reporter, kam eine Woche nach seinem Geburtstermin zur Welt
■ Bernd Hartung, 44, freier Fotograf, kam zwei Wochen zu spät und wog 4.800 Gramm