Jeder zerrt am Kind – ob Schule oder Konsum

JUGENDTHEATER Erstmals schrieb Armin Petras ein Stück für Kinder. Robert Neumann inszeniert seinen „Kreidekreis“ im Grips Theater

Zum ersten Mal steht im Grips ein gemischtes Ensemble auf der Bühne

VON LUISE CHECCHIN

Kinder, die daddeln: kein ungewöhnlicher Anblick. Aber diese Kinder steuern keine Computerfiguren, sie steuern Erwachsene. Roboterartig staksen diese über die Bühne, stapeln Kisten. Ein analoges Tetris.

So einiges ist ungewohnt in der „Kreidekreis“-Inszenierung, die diese Woche am Grips Theater Premier hat: Armin Petras – Dramatiker und Intendant des Schauspiels Stuttgart – hat zusammen mit der Choreografin Lara Kugelmann sein erstes Kinderstück geschrieben. Ebenfalls zum ersten Mal steht im Grips ein gemischtes Ensemble aus Kindern und professionellen Schauspielern auf der Bühne. Und auch die Kreidekreis-Fabel kommt anders daher: In der Geschichte vom Streit zweier Frauen um ein Kind steht diesmal die Perspektive des Kindes im Vordergrund.

„Ich finde, das ist die aufregendste Premiere der letzten Jahre“, freut sich Stefan Fischer-Fels, der künstlerische Leiter des Grips. Als Petras mit der Idee auf ihn zukam, sei er begeistert gewesen: „Jeder zerrt am Kind in unserer Gesellschaft – die Schule, die Medien, die Konsumgesellschaft.“ Das Kind im Stück sage: „Ich möchte meine Geschichte erzählen und nicht herumgezerrt werden.“ Die Selbstermächtigung des Kindes steht seit jeher im Fokus des Grips. Dieser inhaltlichen Kontinuität mutet Fischer-Fels mit dem Kreidekreis formal jedoch einiges zu.

Denn Petras schreibt für Kinder kaum anders als für Erwachsene: eine gebundene, poetisch überhöhte Sprache, die fast so fremd wirkt wie das alte China, in dem die Fabel spielt. „Wir alle hatten Respekt vor dieser künstlichen Sprache“, räumt Fischer-Fels ein.

Eine Klassikerbearbeitung, in so komplexer Form präsentiert – kann das im Kindertheater funktionieren? Vor dreieinhalb Jahren hatte Fischer-Fels die künstlerische Leitung von Grips-Gründer Volker Ludwig übernommen. Damals kündigte er an, das Theater für neue Ästhetiken zu öffnen. Dieser „Transformationsprozess“ dauere an, sagt er heute. Man experimentiere noch – indem man statt mit Autoren mit Theaterkollektiven arbeite, die „vierte Wand“ durchbreche oder das „Gemachte“ des Theaters ganz bewusst ausstelle.

„der kreidekreis“ vereint sehr viele dieser Neuerungen. Petras und Kugelmann haben die Geschichte in der Gegenwart verankert. In der Rahmenhandlung liegt der Junge Li im Krankenhaus. Untersuchung über Untersuchung lässt er über sich ergehen, ohne Ergebnis. Zu seinem Geburtstag wünscht er sich eine Abwechslung – eine Theateraufführung, bei der alle mitspielen müssen, die Mutter, der Oberarzt, der Pfleger, die anderen jungen Patienten.

Petras und Kugelmann stützen sich in der Kreidekreis-Handlung dabei nicht auf die Brecht-Version, sondern auf die von Klabund aus dem Jahr 1925: Die verarmte Haitang (Maria Perlick) wird vom raffgierigen Ma (Christian Giese) gekauft. Als sie ein Kind von ihm bekommt, ist seine erste Frau Yü (René Schubert) so eifersüchtig, dass sie den Ehemann vergiftet, Haitang den Mord anhängt und obendrein noch das Kind als das ihre ausgibt. Erst der Kaiser (Paul Jumin Hoffmann) löst den Streit. Er setzt das Kind in einen Kreis und verkündet, diejenige, die es als erste herausziehe, habe gewonnen.

Bei Klabund kann die tatsächliche Mutter sich nicht dazu durchringen, dem Kind Leid anzutun, und weigert sich – so erkennt sie der Kaiser. Im Grips sind die Bösen nicht so böse wie bei Klabund. Der größte Unterschied aber ist der Perpektivwechsel: Die Erwachsenen, besetzt mit den professionellen Grips-Schauspielern, werden von den sechs Kinderdarstellern in Szene gesetzt. Immer wieder unterbrechen sie die Handlung, kommentieren: „Flüssiger, du musst es gefühlvoll lesen“, erklärt der Spielleiter Li seiner Mutter.

Dass dieses Spiel im Spiel und die artifizielle Sprache der Lebendigkeit keinen Abbruch tun, liegt auch am inszenatorischen Einfallsreichtum. Regisseur Neumann findet poetische Entsprechungen für die verdichtete Sprache: die glühend roten Blutbeutel-Lampions, die von der Decke hängen, die Leinwände, auf die Zeichnungen oder Schattenspiele projiziert werden.

Nur an einem Punkt fallen die Theatermacher hinter ihre eigenen Ansprüchen zurück: In Einspielungen aus dem Off machen sich die jungen Darsteller Gedanken, zum Thema Kinderrechte oder ihrem eigenen eng getakteten Terminkalender. Sehr offensichtlich und pädagogisch wirkt das, besonders, da das Projekt sich ja vorgenommen hat, die Kinder als Kunstkonsumenten nicht zu unterschätzen.

„Alle Mittel des zeitgenössischen Theaters sind mit dem Kindertheater auch möglich“, sagt Fischer-Fels. Die jungen Testzuschauer schienen da bei der Hauptprobe am Mittwoch erst mal nicht so sicher. Beim Publikumsgespräch mochte zunächst kaum einer das Thema des Stücks zusammenfassen. Dann kamen doch einige ins Reden. Am Ende ist es wohl wie beim ästhetisch ambitionierten Erwachsenentheater: Oft ist es schwierig zu fassen, nicht selten polarisiert es, aber sich darauf einzulassen lohnt sich.

■ „der kreidekreis“: Grips Theater, 7. 2., 18 Uhr (ausverkauft); 8. 2., 18 Uhr; 10. 2., 11 Uhr (ausverkauft)