: Aus dem Unterbauch der Metropole
STADTGESCHICHTE Die Kultur von unten beleuchet: Zum 75. Todestag des großen Berlin-Chronisten Hans Ostwald, des Herausgebers der „Großstadt-Dokumente“
VON TILMAN BAUMGÄRTEL
Berlin hat eine komische Art, wie es mit denen umgeht, deren Werke es uns heute erlauben, sich die Stadt vorzustellen, wie sie einmal war. Okay, Heinrich Zille ist im Stadtbild vertreten. Aber bis heute gibt es keine Straße, die an den Großstadt-Flaneur Franz Hessel erinnert. Ein Walter-Benjamin-Platz – der eigentlich kein Platz ist – wurde erst 2000 nach langem Theater eingeweiht. In Berlin gibt es zwar unter anderem eine Schule, die nach John Lennon benannt wurde. An den Schriftsteller Christopher Isherwood aber, auf dessen Roman „Goodbye to Berlin“ der Film „Cabaret“ beruht, erinnert nur eine Tafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in Schöneberg.
Sollte eine der zahlreichen Straßen, die in Berlin noch immer nach sogenannten Fliegerhelden aus dem Ersten Weltkrieg heißen, irgendwann mal doch umbenannt werden, um an einen nicht-militärisch-nationalistischen Namenspatron zu erinnern – es gäbe da es einen besonders verdienstvollen Kandidaten: Hans Ostwald, dessen Todestag sich am Sonntag zum 75. Mal jährt.
Hans Ostwald – nie gehört? Der 1873 geborene Berliner Schriftsteller hat nicht nur das in unzähligen Auflagen erschienene „Zille-Buch“ herausgegeben, sondern auch Anthologien des Berliner Humors und der Berliner Mundart. Seine drei Bände mit „Liedern aus dem Rinnstein“, zwischen 1903 und 1906 erschienen, waren ein wichtiger Einfluss auf die sozialkritischen Chansons der Weimarer Republik. Doch vor allem war er der Herausgeber der größten Veröffentlichungsreihe zur Stadtforschung, die es im deutschsprachigen Raum jemals gegeben hat: die „Großstadt-Dokumente“, eine Reihe von fünfzig Heften, die vor allem Ostwalds Geburtsstadt Berlin aus ganz verschiedenen Perspektiven untersuchten. Sie sind Vorläufer der modernen Großstadtsoziologie ebenso wie der journalistischen Sozialreportage von heute. Und die Skizzen des Berliner Alltags nahmen auch die Kurzfeuilletons über das großstädtische Leben voraus, wie sie in diesem Blatt unter dem Titel „Berliner Szenen“ veröffentlicht werden.
Der größere Teil der „Großstadt-Dokumente“ war dem Unterbauch der neu entstandenen Metropole gewidmet: Titel wie „Zuhältertum in Berlin“, „Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen“, „Moabitrium. Szenen aus der Großstadt-Strafrechtspflege“ oder „Lebeweltnächte der Friedrichstadt“ zeigen, welche Bereiche des Großstadtlebens Ostwald und seine Leser am meisten interessierten. Doch in ihrer Gesamtheit zeichnen die „Großstadt-Dokumente“ ein Bild der deutschen Hauptstadt, das über Tingeltangel, Verbrechen und Prostitution hinausgeht: „Berliner Gerichte“, „Berliner Polizei“, „Berliner Beamte“ oder „Berliner Lehrer“ kommen in der Reihe auch vor.
Wer heute eins der grau und brüchig gewordenen Hefte der „Großstadt-Dokumente“ aufschlägt, taucht ein in eine lange untergegangene Welt von „Bouillonkellern“ und Ausflugsrestaurants a la „In Rixdorf ist Musike“. Von Ringvereinen und Vermietungsschwindler. Von Suppenküchen und Ballhäusern. Er liest vom Glanz der Friedrichstadt-Passage (deren Rest heute als Tacheles bekannt ist), einem Abend im jüdischen Scheuenviertel oder einer Übernachtung im Obdachlosenasyl im Wedding, von „Berliner Schwindel“, „Berliner Wucher“ und von „Modernen Geisterbeschwörer und Wahrheitssuchern“.
Eine der eindringlichsten Schilderungen in der zwischen 1904 und 1908 herausgebrachten Reihe ist „Ein Berliner Musikant erzählt“. Angewidert berichtet der anonyme Autor davon, wie er die Tanzmarathons eines alkoholisierten Kneipenmobs durch nächtelanges Klavierspielen begleiten muss und dabei abwechselnd durch spendierte Biere oder durch angedrohte Prügel vom Heimgehen abgehalten wird. Das erinnert nicht nur an einschlägige Szenen im Tresor oder Berghain – der gerafft-atemlose Stil, in dem der Bericht gehalten ist, gemahnt auch an den literarischen Großstadtexpressionismus und Döblins „Berlin Alexanderplatz“.
Ostwald gelang es, bei den „Großstadt-Dokumenten“ für wichtige Themen prominente Autoren zu gewinnen. Der „Einstein des Sex“ Magnus Hirschfeld verfasste einen Band über „Berlins drittes Geschlecht“ und einen über „Berlins Gurgel“, in dem es um den überhöhten Alkoholkonsum der Berliner ging. Der „Bambi“-Autor Felix Salten lieferte einen Bericht über den „Wiener Adel“. Denn auch Metropolen jenseits von Berlin wurden in der Reihe behandelt: Es gab Berichte über den Hamburger Hafen oder das gesellschaftliche Leben von St. Petersburg.
Der gelernte Schmied Ostwald musste – Ende des 19. Jahrhunderts arbeitslos geworden – als wandernder Handwerksbursche mehr als ein Jahr durch Deutschland ziehen. Seine Erlebnisse in der Welt der Tippelbrüder und Tagelöhner verarbeitete er in seinem ersten Roman „Vagabunden“ von 1900, der ein großer Erfolg wurde. Bis zu seinem Tod lebte Ostwald mit wechselndem finanziellen Erfolg als freier Schriftsteller, der „unsere Kultur von unten beleuchten“ wollte.
Auch wenn seine Berichte gelegentlich einen bürgerlichen Voyeurismus zu bedienen scheinen (musste man „Das Berliner Dirnentum“ wirklich in zehn Bänden abhandeln?) – seine Berichte gehören zu den besten und glaubwürdigsten Darstellungen des Lebens der Berliner Unterklasse in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
■ Das einzige derzeit lieferbare Buch von Hans Ostwald ist „Dunkle Winkel“, der erste Band der Großstadt-Dokumente, der gerade vom be.bra Verlag für 9,95 Euro neu veröffentlicht wurde. Die Orginalausgaben der „Großstadt-Dokumente“ sind ausschließlich antiquarisch erhältlich.