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Archiv-Artikel

Freiräume für viele gute Ideen

GRÜNDERZEIT In Sachen Selbstständigkeit hat Berlin bundesweit die Nase vorn. Um mit Erfolg durchzustarten, braucht es vor allem Köpfchen. Die Hauptstadt punktet mit einem kreativen Umfeld und ist vor allem günstig

deGUT 2011

■ Die deGUT 2011 findet am 21. und 22. Oktober im Hangar 2 des ehemaligen Flughafens Tempelhof statt. Mit ihrem umfangreichen Aussteller-, Seminar- und Workshopangebot samt Rahmenprogramm ist sie eine der wichtigsten Messen für Existenzgründung und Unternehmertum in Deutschland. Experten und Berater von Banken, Wirtschaftsverbänden, Kammern und anderen Institutionen sowie erfolgreiche UnternehmerInnen informieren über Wissenswertes zum Start in die Selbstständigkeit. Auch etablierte Unternehmer können dort über Marketing, Verkauf, Recht oder Personal informieren. www.degut.de

VON HEIDE REINHÄCKEL

Berlin eilt der Ruf als Hauptstadt der Gründer und Selbstständigen voraus. 2010 verzeichnete die Stadt die höchste Anzahl an Unternehmensgründungen seit 1989. Mit 124 Gründungen auf je 10.000 Einwohner führte damit die Stadt das Ranking der Bundesländer erneut an. Damit hält die Pionierstimmung der letzten Jahre an: „Man kann heute schneller gründen, mit weniger Kapital“, erläutert Günter Faltin. Der Professor für Entrepreneurship an der Freien Universität (FU) Berlin ist seit über 25 Jahren als Wissenschaftler und Unternehmer in der Berliner Gründerszene aktiv. Mit der Teekampagne gründete er bereits 1985 ein erfolgreiches Unternehmen, das zugleich als Studienobjekt für Studierende dient. Vor zehn Jahren rief er die Stiftung Entrepreneurship ins Leben. Seitdem lädt er Gründungsinteressierte in das „Labor für Entrepreneurship“ ein, hört sich Konzepte an, berät.

Auch andere was tun lassen

Für Faltin haben sich die objektiven Bedingungen für Einsteiger radikal verändert: „Wir brauchen ein zeitgemäßes Gründen. Die Vorstellung, dass der Gründer ein Alleskönner sein muss, hat ausgedient. Heute ist es möglich, vieles an professionelle Dienstleister abzugeben. Man kann sogar mit bereits vorhandenen Komponenten gründen und sie neu kombinieren, wie es beispielsweise die Berliner RatioDrink AG machte. Auch die Gründer von Skype oder Facebook haben mit Komponenten gearbeitet.“

Für Faltin steht die Innovation als unternehmerische Funktion im Mittelpunkt. Buchführung, Marketing und Vertrieb können delegiert werden, elektronische Büros helfen. Für diese neue Art des Gründens sei jedoch eine geeignete Beratung nötig: „Immer noch scheitern 80 Prozent der Neugründungen nach fünf Jahren. Wenn wir anders gründen, nicht konventionell, haben wir große Chancen, nicht im Prekariat oder in der Insolvenz zu landen.“ Über sein Konzept eines zeitgemäßen Entrepreneurship hat Faltin ein Buch geschrieben. Es heißt „Kopf schlägt Kapital“.

Die Vorstellung, dass der Gründer ein Alleskönner sein muss, hat ausgedient

Auch der gesellschaftliche Resonanzraum für Gründungen hat sich verändert. Von staatlicher Seite aus fördern zahlreiche Initiativen Gründungswillige aus verschiedenen Berufsfeldern wie der Wissenschaft, der Technik- und Kommunikationsbranche oder dem Handwerk. Gerade in Berlin existiert ein dichtes Beratungsnetzwerk mit zahlreichen Beratungsangeboten und Gründerseminaren.

Wie Entrepreneurship in Zeiten des Internets im Kreativsektor funktioniert, zeigen Silvia Holzinger und Peter Haas von Il Mare Film. Ihr zweiter gemeinsamer Dokumentarfilm „Weizenbaum. Rebel at work“ über den Informatiker, Provokateur und MIT-Professor Joseph Weizenbaum entstand 2006 als Eigenproduktion innerhalb eines Jahres. „Die Idee war, einen Film über die grandfather nerds zu machen, über den Fortschrittsmythos aus der Sicht der greisen Männer der Computerpioniere“, erzählt Haas. Jedoch die Realisation war ein Kampf: „Der Film ist ohne Fernsehunterstützung oder Filmförderung entstanden, quasi aus dem Dispo.“ Im Anschluss haben die beiden den Film selbst vermarktet, sich eine Community aufgebaut, eine Filmtournee durch Österreich, Deutschland und die Schweiz unternommen, die übers Netz verkauften DVDs selbst zur Post gebracht. Mittlerweile sind es 16.200 verkaufte Exemplare. „Wir setzen auf Slow-Budget-Self-Funding. Es ist zwar ein weiter Weg mit viel Einsatz. Oft ohne Netz und doppelten Boden, mit Risiken und Nebenwirkungen. Doch wir glauben an unabhängige Kreativarbeit“, so Haas.

Der gebürtige Osnabrücker und die Wienerin haben sich bewusst für Berlin als Arbeitsort entschieden: „In Berlin kann man mit knapper Eigenvermarktung weiter kommen als in teuren Städten. Ich hoffe, dass es so bleibt“, sagt Haas. Die beiden haben jetzt ein Buch über unabhängige Kreativarbeit geschrieben. Ihrem Geschäftsmodell folgend, vermarkten sie es auf ihrer gleichnamigen Website www.kann-man-denn-davon-leben.de zuerst als E-Book. Bei über 100 Bestellungen soll es dann auf der Verlagsplattform Euryclia als Printausgabe erscheinen. Darin haben sie die ihnen oft auf Events gestellte Frage in ein Handbuch und zugleich Manifest für eine Community-basierte Eigenvermarktung im Internet verwandelt. „Das Buch zeigt 1.000 Handgriffe für Freiberufler“, so Haas. Neben Best-Practice-Beispielen, einem Abc des Internets und dessen Ökonomie von PayPal über Crowdfunding bis Postproduction enthält das Buch auch ihren Film „Weizenbaum. Rebel at work“ als Fallbeispiel. Denn die beiden Filmemacher legen detailliert die Kosten, Kalkulationen und Erlöse des Doku-Streifens offen. Letztere ermöglichten ihnen die Produktion eines dritten Films, der gerade im Schnitt ist. Mit der Darlegung der Innenperspektive ihres abgeschlossenen Projekts brechen die beiden Doku-Filmemacher auch ein Tabu. Denn über Geld, Finanzierungsspielräume und -schwierigkeiten wird häufig nicht gesprochen. Damit helfen sie auf ihre Weise mit, den Start-up-Mythos in der Kreativwirtschaft auf den Boden der Tatsachen zu bringen.