Bahnhofsromantik

Unter schwäbischer Erotik kann sie sich eigentlich nichts vorstellen, und den Protest gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 hält sie in erster Linie für Romantik. Die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn seziert schonungslos das Bürgermilieu. Ein Gipfelgespräch auf dem Dach des Stuttgarter Linden-Museums

Interview von Rainer Nübel und Susanne Stiefel

?Frau Hahn, wir sind dem Linden-Museum aufs Dach gestiegen, das in seiner völkerkundlichen Sammlung die Vielfalt der Kulturen abbildet. Hier haben Sie im Sommer gelesen aus einem Text, den Sie über ein erotisches Netsuke aus der hiesigen Sammlung geschrieben haben. Was verbinden Sie mit diesem Ort?

Das Linden-Museum ist ein Ort, in den mich meine Eltern mitnahmen. Und als ich dieses Angebot bekommen habe …

einen literarischen Text zu verfassen über ein Objekt Ihrer Wahl aus der Sammlung …

… da dachte ich, dass es einfach toll ist, wieder hierherzukommen und zu schauen, was sich verändert hat. Und das Angebot war verlockend, hinter die Kulissen dieses Hauses treten zu können, in diese dunklen Räume mit den afrikanischen Masken, die mich als Kind so fasziniert haben. Es ist ja ein Privileg, diese Schätze in die Hand nehmen zu dürfen, das hat mich gereizt.

Warum haben Sie sich von den 850 Netsukes, diesen japanischen Handschmeichlern, die es auch in den Varianten faule Frucht oder liebevoll geschnitzte Ratte gegeben hätte, ausgerechnet das erotischste ausgesucht?

In „Fluss ohne Ufer“ von Hans Henny Jahnn gibt es eine Szene, da geht der Held in einen chinesischen Laden, einen antiken obskuren Laden, und bekommt eine chinesische Schnitzerei, ein Brautgeschenk, gezeigt. Rotes Gift wird sie genannt, und sie soll bewirken, dass Fleisch an Fleisch kleben bleibt. Das wird sehr plastisch beschrieben. An diese drastische Darstellung musste ich sofort denken. Denn bei Jahnn ist die ganze Gewalt der Erotik thematisiert. Schlechten und billigen Sex kann man heute an jeder Ecke kaufen. Und ich dachte, wenn ich jetzt hier die Gelegenheit habe, in solch einer umfangreichen Sammlung zu stöbern und tatsächlich etwas zu berühren, da blitzte die Erfahrung dieser Lektüre in mir auf, und ich dachte mir: Ja, das schnappst du dir, auch wenn du gar keine Zeit hast. Tatsächlich war das Netsuke „Taucherin und Krake“ ein tolles Erlebnis.

Die Figur hat ja ein Geheimnis. Von vorne sieht man nur den Kraken, der die Brüste der Frau umschlingt. Aber wenn man das Netsuke umdreht, sieht man das Geschlecht der Frau und was der Krake mit seinen Tentakeln alles sonst noch tut. Bei der Lesung hier im Linden-Museum beklagte sich eine Frau, sie hätte eine erotische Geschichte erwartet und nicht so einen amüsierten Text, wie Sie ihn verfasst haben. Enttäuschen Sie gern Erwartungen?

Es ist das Beste, was man tun kann. Dass man den Leuten nicht nach dem Mund redet, sondern dass man sie dazu bringt, Dinge anders zu sehen, als sie es erwarten. Das ist doch unsere Aufgabe als Schriftsteller.

Und vielleicht, um im Symbol des Netsuke zu bleiben, das Unsichtbare sichtbar zu machen?

Ja. Manchmal werden Dinge ja auch unsichtbar, weil man sie schon zu oft gesehen hat. Wenn man liest, sieht man die Welt durch den Kopf des Autors und kann die Dinge auch einfach einmal umdrehen. Ich fand die Reaktion dieser enttäuschten Frau toll, weil sie gezeigt hat, dass der Text sie geärgert hat. Mehr kann man sich als Autor nicht wünschen, als dass sich jemand aufregt und nicht etwa wohlig zurücklehnt. Erotik oder Sexualität ist ja nichts Gemütliches. Erotik und Sexualität – das ist eine unterschätzte Gewalt, weil sie so präsent und so abgenudelt ist, dass man sich überhaupt nicht mehr klarmacht, welche Macht sie hat und wie gefährlich sie ist. Sexualität ist inzwischen so stark kommerzialisiert, dass mit einem nackten Körper alles verkauft werden kann. Und was die Erotik angeht, ist das Versteckte sicher aufregender als das Offensichtliche.

Sie sind hier geboren, haben in Hamburg und Berlin gelebt und sind wieder zurückgekommen. Was ist für Sie schwäbische Kultur?

Ich habe gemerkt, dass ich schwäbischer bin, als ich dachte. Als ich hierher zurückgekommen bin, musste ich mich neu verorten. Und ich stellte fest, dass ich schreiben kann in Stuttgart, dass hier Stoffe mich umgeben, und das gefällt mir sehr gut.

Was haben Sie bei Ihrer Rückkehr anders gesehen?

Der Dialekt, diese starke evangelisch-pietistische Prägung und die Stadt mit ihrer Geschichtlichkeit, das hat mich früher überhaupt nicht interessiert. Jetzt ist es die Stadt, in der ich meine Kindheit verbracht habe. Sie ist vielleicht nicht so reizvoll wie Paris oder Wien, aber es ist ein Ort, gefüllt mit Erinnerungen. Dadurch wird jeder Ort zum Stofflieferanten für den Autor.

Bleiben wir beim Pietismus, der die Stadt prägt. Gibt es denn eine schwäbische Erotik?

(lacht). Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Ich glaube nicht, dass die Macht der kirchlichen Institutionen bis ins Schlafzimmer reicht. Nein, ich kann mir unter schwäbischer Erotik nichts vorstellen.

Wie wär's mit Schwimmen am Warmbadetag?

Sie spielen auf Klaus und Judith an, eines der Ehepaare aus meinem Buch „Kürzere Tage“. Na ja, ich stelle mir unter Schwimmen am Warmbadetag eine langweilige, eingeschlafene, in Routine erstarrte erotische Beziehung vor. Aber das ist sicher nicht nur schwäbisch.

Ihre Romanfiguren sind nicht eben sympathisch. Sie leben ein wenig selbstbestimmtes, von außen dominiertes Leben, ein gemietetes Leben. Wie kommt es dazu?

Judith ist vollkommen von Angst besetzt und flüchtet sich mit ihren Kindern in die Waldorfwelt wie in eine Ersatzreligion. Ich denke, unsere Gesellschaft ist sehr angstbesetzt, viele Leute fürchten sich, vor allem, wenn sie Kinder haben. Da lastet ein enormer Druck auf allen.

Sie beschreiben mit scharfem Blick nicht nur das schwäbische Bürgermilieu.

Ob man die richtigen Lebensmittel kauft oder die richtigen Heilmittel parat hat, das sind alles Dinge, an denen man sich festhalten kann, um irgendwie unbeschadet durch dieses Leben zu gehen. Für die einen sind das Markenartikel, für die anderen ist es die Ernährung. Es gibt verschiedene Leuchttürme, an denen sich die Leute orientieren, weil es ihnen fehlt an Selbstbestimmung und Sinngebung. Die Verunsicherung im riesigen Markt der Möglichkeiten ist groß; dann hilft es, wenn man sich über die Farbe des Zuckers keine Gedanken machen muss.

Woher kommt diese Angst, die uns nach Geländern Ausschau halten lässt?

Die Menschen hier haben, obwohl sie keine fürchterlichen Katastrophen oder Kriege erlebt haben, das Gefühl, dass alles zusammenbricht. Sie haben Angst vor der Klimakatastrophe, vor dem Bankencrash, und sie bedauern, dass die schön ordentliche Schwarz-Weiß-Teilung Ost-West nicht mehr existiert, die die Welt so wunderbar geordnet hat. Heute gibt es unendliche Möglichkeiten und so viele Dinge, mit denen umgegangen werden muss. Und das Bürgertum – ich finde es schwierig, immer mit diesen Schubladen zu arbeiten, aber sonst kommt man ja gar nicht zurecht – also das Bürgertum hat Abstiegsängste, und die sind berechtigt.

Sie beschreiben ja so genau, dass sich Ihre Nachbarn zum Teil ausgespäht fühlen. Schauen Sie bei Recherchen in die Fenster der Nachbarn?

Ich schreibe nicht über Leute, die ich kenne, außer über mich selbst. Ich habe nicht über meine Nachbarn geschrieben, obwohl viele meinen, dass sie gemeint sind. Das ist oft traurig und auch unangenehm, weil immer wieder Leute verärgert sind. Aber es gibt nun mal sehr viele Menschen, die auf Waldorfpädagogik schwören und aus Prinzip nie weißen Zucker kaufen. Dafür muss ich nicht bei meinen Nachbarn durchs Fenster schauen. Sicher wird auch in meinem neuen Buch wieder jemand sagen: Das bin ja ich. Das ist auch in Ordnung, weil es viele Dinge gibt, die universell sind.

Sie haben einen schonungslosen, direkten Blick auf die Welt. Und eine Schwäche für absurde Alltagsgeschichten wie in „Sommerloch“. Mögen Sie Einzelgänger?

Ich bewundere den Mut, sich auszuklinken aus allen Zusammenhängen. Obwohl das die meisten nicht freiwillig tun. Aber ja, ich bin schon ein großer Freund von verschrobenen Gestalten.

Weil diese verschrobenen Gestalten das Leben bereichern?

Es ist vor allem ein Spiegel. Weil wir alle gefährdet sind, herauskatapultiert zu werden aus den gewohnten Gleisen, abzugleiten, selbst verschroben zu werden. Man kann mit den Einzelgängern zeigen, wie jemand herausfällt aus allen gesicherten Zusammenhängen.

Sind Ihre Romanfiguren glücklich?

Bestimmt nicht! Aber wer ist schon glücklich? Ich glaube nicht an Glück. Das halte ich für eine Illusion. Es gibt so etwas wie Zufriedenheit, höchstens Glücksmomente. Glücksversprechen halte ich für eine verlogene Angelegenheit.

Wir haben im deutschsprachigen Raum tausende Bücher über Glück. Warum?

Weil eine große Sehnsucht geblieben ist, dort, wo die kirchlichen Institutionen mit ihren Heilsversprechen weggefallen sind und einen Leerraum hinterlassen haben. Und mit Glücksversprechen lässt sich wie mit Kochbüchern viel Geld verdienen.

Welche Sehnsucht nehmen Sie derzeit in Stuttgart wahr?

Ich entdecke in den Protesten gegen den Bahnhof sehr starke romantische Komponenten. Eine Sehnsucht nach heiler Welt, nach Wald und Bäumen. Diese romantischen Wurzeln interessieren mich mehr als die konkrete Forderung nach mehr direkter Demokratie.

Worin liegt für Sie die Romantik des Protests?

Viele wünschen sich so sehr, dass alles bleibt, wie es ist. Das ist auch romantisch. Ich bin sehr oft gebeten worden, Position zu beziehen, und habe es nie getan. Ich möchte nur beschreiben, was mich daran fasziniert hat. Wie die Bäume verherrlicht wurden, wie die Menschen die Bäume, mehr oder weniger, ans Herz gedrückt haben. Wie Altäre entstanden sind im Schlossgarten, wie sehr die Leute sich mit Fleisch und Blut auch an diese Bäume gehängt haben und in ihnen gewohnt haben. Wie stark die Sehnsucht nach Gemeinschaft war, wie alte und ganz junge Menschen plötzlich eine Ersatzfamilie gefunden haben, das hat mich wirklich berührt. Da ist ein großer Strom von Sehnsucht, nicht allein zu sein, sich mit dem ganzen Sein vor etwas zu werfen, etwas zu beschützen, sich zu engagieren oder einfach dabei zu sein. Was da an Kraft und Energie für diesen Bahnhof kanalisiert wird! Das hat mich fasziniert und gleichzeitig geärgert. Da stand dann „Taliban“, „Platz des Himmlischen Friedens“, „Montagsdemo“, und das halte ich für zu große Schuhe.

Wenn das Leben nur Rationalität verlangt, dann bedeutet die Romantik des Protests doch auch eine Chance?

Es ist ein bisschen wie Woodstock. Wir sind die Guten, und wir marschieren jetzt alle für das Gute. Was für eine Verschwendung von Zeit und Kraft. Es gibt brennendere Probleme, doch die sind zu weit weg: der Krieg in Afghanistan, Hunger in Afrika. Wir Menschen, da nehme ich mich nicht aus, sind nur zu mobilisieren, wenn der eigene Kittel brennt.

Das klingt ziemlich hoffnungslos. Wie gefährlich ist es, wenn Sehnsucht nicht gestillt wird?

Eine Gesellschaft wird zusammengehalten davon, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu groß ist und dass es eine einigermaßen funktionierende Mittelschicht gibt. Womit wir wieder beim Bürgertum wären und den Sehnsüchten. Man kann natürlich als Resultat des S-21-Protests ganz rational sagen, wir brauchen mehr direkte Demokratie. Und es wird sicher eine vernünftige Idee sein, sich in dieser Hinsicht zu bewegen. Es muss eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit herrschen, für die eine Stadt zu sorgen hat. Und das wird in den nächsten Jahren nicht einfach werden, auch nicht in Europa.

In Israel und in den USA gibt es diesen Aufbruch schon, der mehr ist als das Stuttgarter Aufbrüchle am Bahnhof.

„Aufbrüchle“ ist herrlich.

„Occupy Wall Street“ heißt die Devise in den USA. Am vergangenen Wochenende gab es Demonstrationen in London, Rom, Berlin, Frankfurt und Stuttgart. Verändert sich gerade unser Leben?

Ich hoffe, so pessimistisch mein Grundcharakter auch ist, dass in dem derzeitigen Schlamassel die Chance besteht, Dinge zu verändern, zu verbessern. Es macht mich froh, zu sehen, wie viele Leute auf die Straße gehen und wie stark der Wille ist, politisch zu handeln. Das halte ich für sinnvoller und wichtiger, als Bahnhöfe zu beschützen.