: Die Mafia im Land – na und?
So zynisch es klingen mag, so realistisch scheint es zu sein: In Baden-Württemberg muss es wohl erst ein Mafiamassaker wie 2007 in Duisburg geben, damit Ermittlungsbehörden und Innenministerium die Bevölkerung über die Präsenz der italienischen Banden informieren. Hat das Mafiaproblem in Stuttgart zu viel politische Brisanz?
von Rainer Nübel
Man stelle sich einmal vor, als Szenario: In Baden-Württemberg plant eine gefährliche islamistische Organisation ein Attentat auf Mitglieder einer Gruppierung, mit der sie seit Langem in einem heftigen Konflikt steht – einem blutigen Kampf, der in ihrem arabischen Stammland bereits zu mehreren Morden geführt hat. Jetzt wird dieser Krieg auch in Baden-Württemberg geführt. Die Anschlagspläne sind längst in einem konkreten Stadium, stehen vor der Umsetzung. Die radikal-islamistische Gruppierung hat aus ihren Reihen ein Mitglied bestimmt, das das Attentat verüben soll. Der islamistische Killer zieht los, er befindet sich bereits auf dem Weg in die baden-württembergische Stadt, wo er den Feind töten soll und wird. Doch der Polizei gelingt es, diesen Islamisten-Mordanschlag auf baden-württembergischem Boden zu vereiteln.
Was würde geschehen? Man braucht nicht allzu viel Fantasie: Ermittlungsbehörden und das baden-württembergische Innenministerium würden sofort an die Öffentlichkeit gehen und sie umfassend über den verhinderten Anschlag informieren – so wie sie es schon tun, wenn man bei islamistischen Gruppierungen allein eine theoretische Gewaltbereitschaft festgestellt und Hausdurchsuchungen gemacht hat. Auf jeden Fall wäre der vereitelte Anschlag über längere Zeit ein Topthema für Politik und Medien.
In Baden-Württemberg ist tatsächlich ein Killer bereits auf dem Weg nach Singen gewesen, um gegen eine verfeindete Gruppe ein Attentat zu verüben. Dem Landeskriminalamt (LKA) ist es gelungen, diesen Mordanschlag zu verhindern. So steht es schwarz auf weiß in einem internen Lagebericht der baden-württembergischen Ermittlungsbehörde aus dem Jahr 2010. Der Vorgang ereignete sich im Jahr 2007. Doch weder LKA noch Innenministerium haben die Öffentlichkeit jemals mit nur einem Wort informiert. Die Bürger erfuhren nichts von dem geplanten Anschlag und nichts von dem Krieg, der zwischen der gefährlichen Organisation des Killers und der verfeindeten Gruppe im Stammland beider Gruppierungen seit Langem tobt und nun auch in Baden-Württemberg geführt werden sollte.
Eigentlich eine unglaubliche Sache. Die freilich ihre Gründe hat: es geht in diesem realen Fall nicht um radikalen Islamismus, das politisch opportune und sogar gepushte Thema – sondern um die italienische Mafia. Und das ist ein Sujet, das zwar dieselbe Gefahr für das demokratische Gemeinwesen darstellt, bei dem allerdings die Politik so gar kein Interesse hat, dass es in der Bevölkerung für Aufsehen sorgt. Gerade in Baden-Württemberg.
Der Vorgang war irgendwie sinnfällig. Als die Kontext:Wochenzeitung vor Kurzem die brisanten Inhalte aus dem ihr vorliegenden LKA-Lagebild zur italienischen Mafia dargestellt hatte, befragte die Deutsche Presse-Agentur (dpa) den LKA-Präsidenten danach. Dieter Schneider bestätigte, dass in Baden-Württemberg mehr als zehn verschiedene Clans der kalabrischen Mafiaorganisation 'Ndrangheta ansässig sind. Sie gilt inzwischen als die weltweit gefährlichste kriminelle Organisation, die jährlich einen Umsatz von rund 44 Milliarden Euro vornehmlich mit Drogen- und Waffenhandel macht.
Aus dem vertraulichen LKA-Lagebild geht auch hervor, dass mindestens fünf in Baden-Württemberg präsente ’Ndrangheta-Clans in einem heftigen und blutigen Konflikt stehen. Ein Kampf um Vorherrschaften, der in Italien bereits zu zahlreichen Morden geführt hat – und eben zu dem geplanten Attentat im Sommer 2007 in Singen. Dennoch will LKA-Chef Schneider partout keine Gefahr eines drohenden Mafiakrieges im Lande sehen. War der ’Ndrangheta-Killer etwa Richtung Singen unterwegs, um ein mafiöses Kaffeekränzchen zu besuchen? Fast en passant bestätigte Schneider gegenüber dpa, dass man 2007 diesen Auftragsmord habe verhindern können. Als ob es sich um eine Petitesse handelte, die kaum der Erwähnung wert wäre – jedenfalls nicht gegenüber der Bevölkerung. Ein Mafiamörder im Land, na und?
„Es müssen erst sechs tote Italiener auf der Straße liegen“
Es ist grotesk: Hätte der ’Ndrangheta-Killer in Singen die Tat wie geplant ausgeführt, könnte man mit LKA-Chef Schneider in der Tat sagen, dass in Baden-Württemberg kein Mafiakrieg droht – er wäre dann bereits Realität gewesen. In Nordrhein-Westfalen wurde er Realität, im selben Jahr 2007. Damals eskalierte der langjährige Konflikt zwischen zwei ’Ndrangheta-Clans aus San Luca – mitten in Deutschland: In Duisburg wurden vor einer Pizzeria sechs Kalabrier erschossen. Der italienische Staatsanwalt Nicola Gratteri, der den Sechsfachmord ermittelte, kritisierte schon damals: „Es müssen erst sechs tote Italiener auf der Straße liegen, damit auch in Deutschland realisiert wird, dass man ein gravierendes Mafiaproblem hat.“
Dass gerade in Baden-Württemberg seit Jahren die Mafiaproblematik von Behörden und Landesregierung besonders gerne verharmlost, weggeredet oder verschwiegen wird, kann nicht nur daran liegen, dass sich deutsche Sicherheitskräfte seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 besonders auf den radikalen Islamismus konzentrieren. Zufall oder nicht: baden-württembergische Behörden sind seit der legendären „Pizzaaffäre“ Mitte der 90er Jahre auffallend schweigsam geworden.
Damals war ans Tageslicht gekommen, dass ein kalabrischer Gastronom, den italienische Ermittler und auch das Bundeskriminalamt (BKA) bis heute als wichtiges ’Ndrangheta-Mitglied sehen, enge Kontakte zu Landespolitikern pflegte, vornehmlich der CDU. Noch in 2008 abgehörten Telefonaten zwischen kalabrischen Mafiosi wird der Mann als jener apostrophiert, der mit „dem Minister“ unterwegs sei. Auffällig: Im LKA-Lagebericht von 2010 ist von solchen Hintergründen keine Rede. Im Gegensatz zum aktuellen BKA-Bericht zur ’Ndrangheta in Deutschland. Ist die Materie für baden-württembergische Behörden politisch zu brisant?
Und es wird ein weiterer, politisch äußerst heikler Umstand im aktuellen LKA-Lagebild zur Mafia mit keinem Wort erwähnt: Gerade die 'Ndrangheta wäscht in Baden-Württemberg ihre aus kriminellen Geschäften erworbenen Gelder. Erst jetzt, nach dem Bericht der Kontext:Wochenzeitung, erwähnte LKA-Chef Schneider – wieder eher en passant –, dass die kalabrische Mafia auch Geldwäsche betreibe. Der brisante Hintergrund: Seit weit mehr als zehn Jahren findet in Deutschland faktisch keine effektive Geldwäschebekämpfung statt. Die OECD hat darauf wiederholt aufmerksam gemacht.
Und wieder spielt Baden-Württemberg eine besonders unrühmliche Rolle. Ein früherer Bankdirektor und heutiger Unternehmensberater aus Baden-Baden, Andreas Frank, hat CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger jahrelang in zahlreichen Schreiben darauf aufmerksam gemacht, dass das Land die EU-Richtlinie zur Geldwäschebekämpfung nicht umsetze. Nichts tat sich, Oettinger blockte alles ab. Bis er im Herbst 2009 zum EU-Kommissar designiert wurde. Kurz bevor er nach Brüssel wechselte, beschloss das Stuttgarter Kabinett plötzlich, dass erstmals Aufsichtsbehörden für Immobilienmakler, Versicherungsvermittler, Finanzunternehmen, Spielbanken und Personen, die gewerblich mit Gütern handeln, eingerichtet werden sollen. Ohne eine solche Aufsicht war Baden-Württemberg jahrzehntelang ein Paradies für Geldwäsche.
Und das Land ist dies offenbar immer noch. „Faktisch hat sich bis heute so gut wie nichts verändert“, sagt Andreas Frank, der im Bundestag inzwischen als Geldwäscheexperte firmiert. Hochrangige Ermittler geben ihm nicht nur recht, sie zeichnen ein desaströses Bild: Im vergangenen Jahr habe es in ganz Deutschland nur drei Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche gegeben. Die Konsequenz: „Mafiaorganisationen, gerade aus Italien, können die Millionen aus ihren kriminellen Geschäften in Deutschland völlig unbehindert in den Geldkreislauf eingeben und damit waschen. Die sogenannte Geldwäschebekämpfung hierzulande ist nur eine Show.“
Der neue Innenminister glänzt nun durch sein Schweigen
Die SPD im Stuttgarter Landtag hat in Sachen Mafiagefahr in Baden-Württemberg immer wieder Transparenz und eine lückenlose Aufklärung gefordert – als sie noch in der Opposition war. Ihr innenpolitischer Sprecher hieß damals Reinhold Gall. Heute ist Gall Landesinnenminister. Seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr glänzt er nun bei diesem Thema: durch intensives Schweigen.
Kein öffentliches Wort dazu, dass mindestens elf Clans der gefährlichen 'Ndrangheta in Baden-Württemberg ihre Dependancen, Mitglieder und Kontaktleute haben. Keine Aufklärung darüber, dass sich einige Gruppen in einem heftigen Kampf befinden. Keine öffentliche Äußerung dazu, dass ein Auftragsmord im Land gerade noch verhindert werden konnte.
So etwas nennt man wohl Politik der Kontinuität. Es ist eine bizarre Kontinuität.