Milde für den, der gesteht

Die Juristin Xiao Rundcrantz schildert detailreich, wie sie als Staatsanwältin in China an Korruption und Machtmissbrauch beteiligt war – ein seltener Einblick in das Justizsystem

VON CHRISTIAN SEMLER

Innenansichten vom täglichen Getriebe der Justiz sind auch bei uns nicht gerade häufig. Umso mehr trifft das auf den Justizapparat in der Volksrepublik China zu. Was wissen wir von ihm? Auf der einen Seite unterrichtet uns ein mittlerweile umfangreiches deutsches Schrifttum über die Reformen innerhalb der chinesischen Justiz, über chinesisch-deutsche Konferenzen beispielsweise zum Straf- und Strafprozessrecht, über den „Rechtsstaatsdialog“ im Rahmen der GTZ, der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit. Hier geht es hauptsächlich um Rechtsnormen und um Verfahren, weniger um die Erforschung von Rechtstatsachen.

Auf der anderen Seite lesen wir in den Berichten von amnesty international, zuletzt im Bericht von 2007, über massive Rechtsverletzungen durch die chinesischen Justizorgane, über massenhafte Todesurteile, über die Verhängung polizeilicher „Administrativhaft“ ohne jedes Urteil von bis zu drei Jahren – letztere Praxis häufig angeordnet im Hinblick darauf, dass den Besuchern der Olympischen Spiele der Kontakt mit unerwünschten Personen erspart bleibe.

Man sollte sich von dem etwas reißerischen Titel „Rote Staatsanwältin“ nicht abschrecken lassen, den der Verlag dem Bericht von Xiao Rundcrantz gegeben hat, die nach mehr als einem Jahrzehnt in den Diensten einer chinesischen Anklagebehörde mit ihrem Freund (und späteren Ehemann) nach Schweden emigriert ist.

Xiaos Buch spielt bei der Anklagebehörde in der südlichen Provinz Hunan, zuerst in einem mittelgroßen Nest, dann in der Hauptstadt Changsha. Es beschreibt anhand einer großen Zahl von Rechtsfällen den Alltag von Ermittlungen, Verhaftungen und Verurteilungen, schildert die menschlichen und dienstlichen Beziehungen innerhalb der Behörde und erlaubt uns einen Blick auf den Justizapparat aus der Sicht der Bevölkerung.

Die Schilderung Xiaos ist um Unmittelbarkeit und Plastizität bemüht, was sich in der häufigen Verwendung von Dialogen und den Verzicht auf dokumentarische Materialien äußert. Was ihrem Bericht deshalb an Beweiskraft mangelt, macht Xiao wett durch sehr lebhafte, detailgenaue Schilderungen, durch Porträts ihrer Vorgesetzten und (befreundeten) Kolleginnen, von denen einige mittlerweile ebenfalls der Volksrepublik den Rücken gekehrt haben.

Xiao wurde unmittelbar nach dem Schulabschluss für den Dienst bei der Staatsanwaltschaft rekrutiert. Juristische Kenntnisse erwarb sie in einem dreijährigen Fernstudium neben der laufenden Arbeit plus ein paar Intensivkursen. Diese Ausbildung stach ab von Karrieren als Richter oder Staatsanwalt, die aufgrund von persönlichen Beziehungen oder Bestechung ohne jede Rechtskenntnis durchlaufen wurden. Die Fälle, mit denen Xiao als Staatsanwältin zu tun hatte, gehörten nicht zum „sensiblen“ politischen Bereich, es ging um Alltagskriminalität. Ein deprimierendes Geschäft. Obwohl die Anklagen sich auf Beweise und Indizien stützen sollten, galt nach wie vor der Grundsatz „Milde für den, der gesteht, Strenge für den, der leugnet“. Mit oft ungesetzlichen Mitteln wurde deshalb versucht, den Gefangenen zum Geständnis zu bringen, oft ohne dass danach Milde gewaltet hätte.

War die Anklage erhoben, stand die Verurteilung fest. Denn bei einem Freispruch aufgrund der Hauptverhandlung hätte die Staatsanwaltschaft ihr Gesicht verloren. Dem Gericht blieb Raum für die Strafzumessung, die allerdings oft genug zwischen Tür und Angel mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt wurde. Für die Verteidigung, die nach der Kulturrevolution zur Amtszeit Xiaos gerade erst wieder eingerichtet worden war, war das Aktionsfeld noch geringer. Allerdings bildete sich nach der Beobachtung Xiaos mit der Zeit ein symbiotisches Verhältnis zwischen Gericht und Verteidigung heraus. Die Verteidigung zahlte dafür, dass sie Fälle zugewiesen bekam und diente als Mittelsmann/frau bei der Übermittlung von Geschenken und Bargeld seitens des Angeklagten.

Das Buch Xiaos schildert Bestechung bei der Nichtverfolgung von Straftaten, der Niederschlagung von Prozessen, insbesondere bei Wirtschaftsstraftaten, als eine allgegenwärtige Massenerscheinung im Justizwesen. Für ihre eigene Versetzung in die Großstadt Changsha muss sie eine Unmasse von Geschenken aufwenden. Sie schildert sich selbst als eine junge, idealistische Beamtin, die wegen ihrer menschlichen Regungen oft getadelt wird. „Mit einem Kriminellen“, wird ihr eingeschärft, „darf man niemals Mitleid haben.“ Xiao spürt an sich selbst einen zunehmenden Prozess der Verhärtung und Abstumpfung. Indem sie mit ihrer Karriere Schluss macht, schließt sie ihre „Lehrjahre“ mit ihrer eigenen Rettungsaktion ab.

Bei einer zweiten Auflage empfiehlt sich ein genaues Lektorat juristischer Fachbegriffe. So heißt in der deutschen Übersetzung die Staatsanwaltschaft „Anwaltskammer“, was bekanntlich die Standesorganisation der Rechtsanwälte benennt. Nicht schlecht wäre auch eine Erweiterung des Nachworts, das uns mit dem juristischen „Nachleben“ der Autorin bekannt macht.

Xiao Rundcrantz: „Rote Staatsanwältin. Meine Entscheidung gegen Korruption und Machtmissbrauch in China“. Aus dem Schwedischen von Jürgen Vater. Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2007, 352 Seiten, 19,90 Euro