: Wo Goethe verliebt dichtete
Auf den ersten Blick ist Sesenheim ein ganz gewöhnliches elsässisches Dorf: zwei Kirchen und um die Mittagszeit geschlossene Geschäfte. Wenn sich der Dichter neben seinem Studium hier nicht auf Landpartie vergnügt hätte
„Goethes Briefe“, Bd. 1, Beck, München, 1986 Goethe, Werke, „Dichtung und Wahrheit“, 5. Band 2. Teil 9/10, Frankfurt 1998 Raymond Matzen: „Goethe, Friederike und Sesenheim“. Morstadt Verlag, Kehl 1983
VON ANIMA KRÖGER
Als Student kam im Frühjahr 1770 der 21-jährige Johann Wolfgang Goethe nach Straßburg. Fern vom strengen Vater in Frankfurt gefiel es ihm im Elsass gut. Er sprach fließend Französisch. Zunächst stieg er im alten Straßburger Gasthof Zum Geist ab – malerisch am Ufer der Ill am Quai St. Thomas gelegen – und besichtigte sogleich das Münster. „Und so sah ich denn von der Platt-Form die schöne Gegend vor mir, in welcher ich eine Zeit lang wohnen und hausen durfte: die ansehnliche Stadt, die weitumherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und durchflochtenen Auen, diesen auffallenden Reichtum der Vegetation, der dem Lauf des Rheins folgend, die Ufer, Inseln und Werder bezeichnet“, schwärmt er noch vier Jahrzehnte später als Sechzigjähriger in „Dichtung und Wahrheit“.
Wirft man heute, fast zweieinhalb Jahrhunderte später, einen Blick von der 66 Meter hohen Plattform des Straßburger Münsters, so sind die schönen Rheinauen nur noch zu erahnen. Parkplätze und ein Häusermeer – so weit das Auge reicht. Auf der Plattform selbst entdeckt man auf Sandsteinen Kritzeleien von vielen früheren Besuchern aus dem 18. Jahrhundert, auch die von Goethe soll darunter sein. Viele der Straßenverläufe und Häuser rund ums Münster sind seit Jahrhunderten gleich geblieben. Und in den Straßen wohnen auch heute Studenten. „Ich bezog ein kleines aber wohlgelegenes und anmutiges Quartier an der Sommerseite des Fischmarkts, einer schönen langen Straße, wo immerwährende Bewegung jedem unbeschäftigten Augenblick zu Hülfe kam“, schreibt Goethe.
Dieses schmalbrüstige, momentan rot verputzte Fachwerkhaus mit schiefem Dach (Nr. 36) steht noch heute in der quirligen Rue du Vieux Marché-aux-Poissons, einen Steinwurf vom Münster entfernt. Goethe nahm damals den Mittagstisch in einer kleinen, nahe gelegenen Pension ein, in der engen Knoblochgasse, der Rue de l’Ail, in der sich auch heute einige Esslokale befinden. Goethe besuchte aus reinem Interesse Medizin- oder Chemievorlesungen in der Pharmacie du Cerf in der Rue Mercière, der Krämergasse. Auf Wunsch seines Vaters setzte er auch sein Studium der Jurisprudenz an der Place des Etudiants fort.
Kleine Exkursionen in die nähere Umgebung sorgten für Abwechslung. Zusammen mit einem Freund, dem Elsässer Friedrich Leopold Weyland, ritt er im Oktober 1770 aus. Weyland kannte den Landpfarrer von Sesenheim, etwa 40 km nordöstlich von Straßburg. „Die Gegend hier hat den Charakter des ganz freien ebenen Elsasses. Wir ritten einen anmutigen Fußpfad über Wiesen, gelangten bald nach Sesenheim, ließen unsere Pferde im Wirtshause und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe.“ Gastfreundlich werden sie von der Pfarrersfamilie Brion aufgenommen. In die jüngere Tochter, die 18-jährige Friederike, verliebte sich Goethe auf der Stelle. „In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf“, schilderte Goethe seinen nachhaltigen ersten Eindruck. Ein Mondscheinspaziergang und eine schlaflose Nacht und eine Märchenstunde in der Laube folgten. Mindestens sechs weitere Besuche Goethes in Sesenheim, darunter ein fünfwöchiger Aufenthalt im Mai/Juni 1771, sind nachweisbar: „Ich war grenzenlos glücklich an Friederikens Seite.“ Friederike inspiriert den verliebten Goethe zu den „Sesenheimer Liedern“. Bekannt ist jedoch allein die Sicht Goethes. Nicht ein einziger Brief Friederikes ist erhalten, Goethe hat alle ihre Briefe verbrannt.
Heute fährt ein Mini-Zug mit einem einzigen Waggon vom Straßburger Hauptbahnhof aus nach Sesenheim. Nach den Vororten geht es über Bischheim, Hoehnheim, Gansheim, Herlisheim und Drusenheim nach Sesenheim. Die flache Landschaft ist zugebaut mit Autostraßen und mit Industriebauten, Röhrenfabriken, Gasboilern, Strommasten – nur selten sieht man noch Felder und Wälder. Auf den ersten Blick ist Sesenheim ein ganz gewöhnliches elsässisches Dorf mit zwei Kirchen, mit um die Mittagszeit geschlossenen Geschäften, Post und Gasthöfen. Auf die Mauern des Rathauses sind zwei Reiter und eine junge Frau in Tracht gemalt. Die Fachwerkhäuschen haben Satellitenschüsseln vor den Fenstern, der Ort wirkt vollkommen ausgestorben. Nur kläffende Köter und zwitschernde Vögel und Autolärm von der nahe gelegenen Schnellstraße.
Am 6. August 1771 schloss Goethe in Straßburg sein Jurastudium ab. Kurz darauf ritt er zu einem letzten Besuch nach Sesenheim. Kein Wort in „Dichtung und Wahrheit“, wie und warum es zum Bruch mit Friederike kam. „Doch ach, schon mit der Morgensonne / Verengte der Abschied mir das Herz: / In deinen Küssen, welche Wonne! / In deinem Auge, welcher Schmerz! / Ich ging, du standst und sahst zur Erden, / Und sahst mir nach mit nassem Blick: / Und doch, welch Glück geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Goethe ritt davon, verließ das Elsass und ließ sich – inzwischen Minister – erst acht Jahre später wieder in Sesenheim blicken.
Und Friederike Brion? Sie blieb zeitlebens unverheiratet. Heute steht das Pfarrhaus der Brions nicht mehr. Aber selbst an einem Regentag warten in der Ortsmitte von Sesenheim Reisebusse sowohl vor der Goethe-Scheune (!) des Pfarrhauses in der Rue Frédérique Brion als auch vor der kleinen protestantischen Kirche in der Rue de l’Eglise. Die beiden Liebenden sollen oft abends zur Friederikenruh, zum Goethe-Hügel, spaziert sein. Der Vogesenverein hat für Goethe-Liebhaber aus aller Welt den Weg zur Goethe-Eiche ausgeschildert.