LESERINNENBRIEFE :
Platte Effekthascherei
■ betr.: „Was darf die Kunst, was darf sie nicht?“ (Franzen) „Kalkül des Schocks“ (Werneburg), taz vom 30. 10. + 2. 11. 11
Kunst schaffe Spielräume, heißt es bei Erik K. Franzen und er weist auf ihr Selbsterfahrungspotenzial hin. Ich möchte die Frage stellen, wem eröffnen sich eigentlich mit platter Effekthascherkunst Spielräume und wer kann sich da neu erfahren? Die Unreflektiertheit, mit der der Kunstbetrieb und die mit dem Betrieb immer enger verquickte Kunstkritik solch hohle Spektakelkunst hinnimmt und lobpreist – einschließlich übrigens auch Artur Zmijeskis unfassbar banales Berlin-Biennale-Konzept für 2012 – zeigt, dass die neo-individualliberale Kunstkacke munter weiter vor sich hin dampft. Zum Glück hat Brigitte Werneburg mit ihrer fundierten, präzisen Analyse die Kunst von Artur Zmijeswki als die krude, verschwafelte und pseudokritische Zumutung entlarvt, die sie tatsächlich ist.
WOLFGANG MÜLLER, Berlin
Die Bühne verlassen
■ betr.: „Kalkül des Schocks“, taz vom 2. 11. 11
Danke, Brigitte Werneburg, dass Sie mal Klartext reden!
Kann jemand, der einen 92-Jährigen nötigt, seine verblichene KZ-Häftlingsnummer vor laufender Kamera zu „erneuern“ und das als „Kunst“ verkauft, Chef der Biennale Berlin 2012 werden? Die Frage verbietet sich von selbst! Dass es willfährige Idioten gibt, die der Aktion auch noch ein zutiefst demokratisches Grundverständnis bescheinigen, ist eine Sache. Dass aber ausgerechnet die deutsche Hauptstadt allen Ernstes so einen Verächter der Menschlichkeit zum Leiter einer internationalen Veranstaltung macht, demonstriert in abstoßender Weise, dass Moral und Anstand, Empathie und Verantwortung nur noch Worthülsen sind, mit denen Politiker und andere öffentliche Ansager das gemeine Volk und die Jugend gängeln wollen. Es ist keineswegs so, dass die „Kunst“ des Herrn Zmijewski erst nach seiner Benennung, erst jetzt nach der Entfernung einer seiner empörenden „Videoarbeit“ aus dem Martin-Gropius-Bau, bekannt geworden wäre. Die Verantwortlichen für seine Berufung, denen die diesen „Werken“ zugrunde liegende geistlose Haltung sehr wohl bekannt war, sollten zusammen mit dem Täter die Bühne der Öffentlichkeit so schnell und leise wie möglich verlassen und nie wieder etwas von sich hören und sehen lassen.
MARIA ZACHOW-ORTMANN, Husby
Wahl zwischen Pest und Cholera
■ betr.: „Rekord bei Treibhausgasen“, „Krise als Chance – für das Klima“, taz vom 5. 11. 11
Natürlich ist es richtig, dass die Welt mit einer Vielzahl ineinander verwobener Krisen konfrontiert ist. Nur haben wir es unter kapitalistischen Bedingungen bei dem Verhältnis von ökonomischer und ökologischer Krise mit der logischen Struktur eines Dilemmas zu tun, der Wahl zwischen Pest und Cholera: Wer für den Markt produziert, tut dies in der Erwartung, am Ende mehr Geld herauszubekommen, als anfangs in den Produktionsprozess hineingeworfen wurde. Ohne eine solche Wachstumsvoraussetzung entfiele jedes Motiv, ökonomisch tätig zu werden. Wo sie nicht erfüllt ist, gerät daher die Volkswirtschaft in die Krise. Wo sie aber erfüllt ist, wächst mit den Profiten und der Arbeitsproduktivität auch der Verbrauch an Rohstoffen, Energie, Luft, Wasser und Boden und mit ihm die seit mehr als 40 Jahren öffentlich diskutierte und dennoch sich immer weiter verschärfende ökologische Krise. Die angeführten Daten für die Jahre 2009 und 2010 zeigen das wieder einmal exemplarisch.
Echte Lösungsansätze, die aus diesem Dilemma herausführen, kann es nicht geben, solange die kapitalistische Produktionsweise unangetastet bleibt. Das Elend des „Green New Deal“ und seiner Protagonisten liegt darin, sich diesem Problem nicht in seiner vollen Schärfe stellen zu wollen und sich daher im Kreise drehen zu müssen auf der Suche nach Lösungen, die uns den Pelz waschen, ohne uns nass zu machen. CLAUS PETER ORTLIEB, Hamburg