Einer, der durch Gedanken verführte
BRIEF AN EINEN TOTEN Mit einer Tagung und einer Ausstellung wird der Filmemacher Harun Farocki in Berlin gewürdigt. Ein Weggefährte erinnert sich an ihn
■ Am Freitag eröffnet im Berliner Haus der Kulturen der Welt die Schau „Eine Einstellung zur Arbeit“, die Harun Farocki und Antje Ehmann konzipiert hatten, bevor Farocki im Juli unerwartet verstarb. An fünfzehn Orten – von Bangalore über Hanoi bis Tel Aviv – sind Kurzfilme entstanden, die ins Bild setzen, wie heute gearbeitet wird. Flankiert wird die Schau von einer Tagung, die heute beginnt. Das Programm findet sich unter www.hkw.de.
VON GERD CONRADT
Über seinen Tod möchte ich mit Harun persönlich sprechen:
Das letzte Mal habe ich Dich bei der Eröffnung Deiner Ausstellung „Ernste Spiele“ im Hamburger Bahnhof getroffen, einem Tempel zeitgenössischer Kunst. Während der Eröffnungsreden standest Du am Rand im Publikum. Ich machte drei Fotos von Dir, mehr aus der Distanz. Es war eine feierliche Stimmung, würdevoll. Ich wollte ein Porträt machen, Deinen Kopf, fand das aber zu voyeuristisch. Journalisten haben dafür lange Brennweiten, ich hätte mich vor Dir aufstellen und abdrücken müssen.
Du sahst hager aus, die Haut war grau, Du wirktest erschöpft. „Er arbeitet zu viel, er ist krank“, dachte ich.
Viele Menschen waren gekommen, Deine Familie, MitarbeiterInnen, KollegInnen vom Fach Kunst. Alt und Jung. Du bist populär geworden. Unter Deinen Fans waren viele Frauen. Du hattest eine erotische Ausstrahlung. Ich erinnere mich an einen Artikel in der Popzeitschrift twen: „Meine Nächte mit Harun.“ Ich war neidisch. Du warst einer der begehrtesten SDS-Playboys. Einer, der auch durch Gedanken verführte.
In einem großen dunklen Raum im Seitengebäude des Hamburger Bahnhofs hingen Leinwände von der Decke. Auf den Vorder- und Rückseiten wurden Bewegtbilder – Filme und Videos – als Endlosschleifen gezeigt. Das reflektierende Licht der Leinwände erhellte den Raum. Die BesucherInnen verweilten oder liefen andächtig wie Scherenschnitte durch das Dämmerlicht. Auch „Nicht löschbares Feuer“, Dein erster Film, „ein Klassiker aus der Zeit des Vietnamkrieges“, für den ich die Kamera gemacht hatte, wurde gezeigt. Für die Ausstellung war der Film restauriert worden. Das Filmkorn wurde durch digitale Pixel ersetzt. Die Filmbilder hatten eine brillante Schärfe, eine gesäuberte Oberfläche, die bei mir, dem Macher der Bilder, Staunen verursachte. Von seiner alten Aura befreit, präsentierte sich der Film in der musealen Umgebung – klinisch rein – mit neuem Warenwert.
Du standest zwischen den Bildern und Besuchern, nicktest hier- und dorthin, stimmtest zu, Lob wehrtest Du nicht ab. Du warst zugewandt und zugleich abwesend – auf Deine sehr spezielle Art. Mit Deinen Händen dirigiertest Du Deine gleitenden Gedanken, mit einem Kopfnicken unterstrichst Du Deine Aussagen. Oft endete ein Satz mit einem Lachen, das sagte: „So könnte es gewesen sein.“
Am Tag vor Deinem Tod war ich mit meiner Frau bei ihrer zweiundneunzigjährigen Mutter zu Besuch. Am liebsten saß die alte Dame am Fenster und las in ihren Tagebuchaufzeichnungen. Sie sprach wenig. Ich sortierte Fotos auf meinem Chip und stieß dabei auf die drei Bilder mit Dir aus dem Hamburger Bahnhof. Da war wieder dieser hagere, nachdenkliche, erschrockene, ungläubige Harun, um den es hier gegangen war und der sich dagegen wehrte, selbst Ausstellungsgegenstand zu sein. Ich beschloss, sobald ich in Berlin bin, rufe ich Dich an. Ich wollte wissen, wie es Dir geht.
In der Nacht hatte ich einen Traum. Ich sah Dich in einem großen Feuerkreis stehen. Das Feuer gefährdete Dich nicht. Du standest eingehüllt in einen Kapuzenmantel – wie Giordano Bruno auf dem Campo de’ Fiori in Rom. Dein Gesicht war nur als Silhouette, im Anschnitt, zu erkennen.
Am nächsten Tag auf der Rückfahrt nach Berlin kam eine dringende Warnung vor einem Geisterfahrer aus dem Verkehrsfunk. Der befand sich genau in dem Abschnitt, auf dem wir fuhren. Kaum hatten wir die Warnung gehört, sprangen die Signale des Verkehrsleitsystems von 120 auf 60 km/h. Wir reihten uns zwischen die Lkws auf der rechten Spur ein. Einige Autos fuhren ungebremst weiter. Es dauerte nicht lange, und es bildete sich ein Stau. Nur die rechte Spur kam im Schritttempo voran. Erst sahen wir Blaulichter, dann Rauch, dann Rettungsfahrzeuge, einen Hubschrauber in der Luft. Wir kamen zum Unfallort. Mehrere Autos waren ineinander verkeilt, rauchten. Ein Auto war über die Leitplanke geschleudert worden und brachte dort den Verkehr zum Stillstand. Überall Glassplitter. Eine vermutlich tote Person lag zugedeckt auf einer Bahre, eine andere, in eine Goldfolie gehüllt, lag mit den Füßen nach oben am Autobahnrand. Das Geschehen erinnerte an Godards Film „Weekend“. Kurz vor Hannover gab es wieder eine Staumeldung. Bei der nächsten Ausfahrt verließen wir den Highway und fuhren durch unbekannte Dörfer und Landschaften in einer Kolonne mit vielen anderen Fahrzeugen. Die Lkws auf den Landstraßen erinnerten mich an Elefanten, und ich dachte, so muss es gewesen sein, als Hannibal über die Alpen zog.
Noch unter dem Schock des Erlebten machten wir in Gifhorn Rast, als mich eine SMS von einer Freundin aus der Schweiz erreichte: „Harun ist tot.“ Die Fotos, der Traum, der Unfall.
In der Nacht hatte ich einen Traum. Ich sah Dich in einem großen Feuerkreis stehen
In meinem Film „Video Vertov“ kommentiere ich ein Dokument, in dem ich mit anderen DFFB-Studenten über den politischen Film 1968 diskutiere. Heute kritisiere ich mich dafür, dass ich damals nicht über das sprach, was mich bedrückte, darüber, dass unserer Familie das Geld zum Leben fehlte, wir aber über die Weltrevolution fabulierten. Du ergänzt in Deiner letzten E-Mail meine Anmerkung: „Damals haben wir auch nicht darüber gesprochen, dass wir alle Konkurrenten sind.“
Es wird gesagt, der Mensch erlebe im Moment des Todes sein ganzes Leben wie in einem Zeitraffer. War es so bei Dir?
Unter dem Titel „Was zählt!“ wird es am 8. November 2014 einen Abend geben, an dem an Dich erinnert wird. Der nächste Tag, der 9. November, ist ja der „Schicksalstag“ der Deutschen. Mauerfall, Hitler, Pogromnacht – und unser Studienfreund Holger Meins starb auch an dem Tag – vor vierzig Jahren. Für Holger galt: „das einzige, WAS ZÄHLT, ist der Kampf – jetzt, heute, morgen, gefressen oder nicht. Was interessiert, ist, was Du draus machst: ’n Sprung nach vorn. Besser werden. Aus den Erfahrungen lernen. Genau das muß man daraus machen. Alles andere ist Dreck. DER KAMPF GEHT WEITER.“ (1974)
Viele Fragen sind offen: Wie bist Du gestorben? Gibt es Zeugen, „Tatort“-Fotos? Eine Totenmaske? Hattest Du ein Testament geschrieben, eine Patientenverfügung verfasst? Wurdest Du begraben, verbrannt? War der Moment Deines Todes ein eiskalter Hauch, ein heißer Blitz, eine Erlösung? Bis Du auf- oder abgestiegen? Dein Leben als Intermezzo, als Sonne ohne Schatten?
Auch die Toten Hosen fragen: „Was zählt?“ Und antworten: „Nur die Liebe zählt.“
■ Gerd Conradt ist Filmemacher (u. a. „Starbuck Holger Meins“, „Video Vertov“). Mit Harun Farocki arbeitete er mehrmals zusammen, zum Beispiel bei „Nicht löschbares Feuer“ (1969)