: Streichelzoo mit Cristiano
VERBALE GEWALT Seit ein Anhänger bei einer Massenprügelei ums Leben gekommen ist, fährt die spanische Fußball-Liga eine harte Linie. Weil Barça-Fans Ronaldo als „Säufer“ besungen haben, droht nun eine Strafe
BARCELONA taz | Wer, wie viele, und welches Lied? Zu den Themen, die den Fußball in Spanien zu so einem reichen Abbild des Lebens machen, dass er unzählige Sportzeitungen, Radioshows und Fernsehsendungen befüllt, gehört neuerdings auch die Frage: Was singen Fans? Beziehungsweise: Was dürfen sie singen?
Südkurve Barcelona, Camp Nou, zweite Halbzeit vor zehn Tagen beim 5:0 gegen Levante. Man muss vielleicht erst einmal wissen, dass es zwar kein größeres, aber auch kaum ein ruhigeres Stadion gibt in Europa. Die 98.000 Menschen fassende Schüssel ist kein Ort der ungezügelten Leidenschaften oder gar der offenen Aggressionen. Laut wird es eigentlich nur nach 17 Minuten, 14 Sekunden jeder Halbzeit, wenn in Anlehnung an das mythische Datum der katalanischen Nationalbewegung die Unabhängigkeit von Spanien gefordert wird; oder wenn es gilt, dem Fußball-Gott Lionel Messi zu huldigen; oder wenn der Schiedsrichter mal wieder Tomaten auf den Augen hat.
Ansonsten singen nur ein paar hundert Jugendliche in der Südkurve, von denen einige während des Levante-Spiels die Gelegenheit ergriffen, die Debatte um die Geburtstagparty des im Camp Nou nicht sonderlich geschätzten Cristiano Ronaldo zu bereichern. Zur Melodie von „Guantanamera“ verlautbarten sie, dass es sich bei Ronaldo um einen „borracho“ handele, einen „Säufer“ – was ungefähr so wüst klingt wie die Behauptung, der Schiedsrichter habe Tomaten auf den Augen. Geradezu niedlich im Vergleich zu dem, was man aus Fußballstadien sonst gewohnt ist. In Deutschland etwa wünschen Anhänger ihren Gegnern „Tod“ und „Hass“, derweil sogar der Nationalmannschaftskapitän die ärgsten Rivalen grölend als „Hurensöhne“ bezeichnet.
Der Begriff war auch in Spaniens Stadien immer sehr präsent. Bis am 30. November ein Fan von Deportivo La Coruña bei einer Massenprügelei mit Anhängern von Atlético Madrid getötet wurde. Danach verabredeten die Liga LFP und die Politik eine harte Linie, nicht nur gegen physische, sondern auch gegen verbale Gewalt. Plötzlich erstattet die Liga sogar wegen des Säufers eine Anzeige gegen den FC Barcelona. Es droht eine Geldstrafe oder im härtesten Fall eine Tribünenschließung.
Nach jedem Spieltag veröffentlicht die LFP ihre Liste mit den Vergehen vom Wochenende. Hier ein „Wichser“ in Valencia, dort eine „Schwuchtel“ in Granada und zuletzt auch die Unappetitlichkeit der Ultras von Betis Sevilla, ihren Stürmer Rubén Castro für seine gerichtskundige Gewalt gegen die Exfreundin abzufeiern („Sie war eine Nutte, gut gemacht“). Weniger als um konkrete Sanktionen geht es der Liga allerdings wohl darum, eine Drohkulisse aufzubauen, um ein Klima der Selbstregulierung zu befördern. Mit Hilfe ihrer Videoüberwachung sollen die Klubs identifizieren und handeln. Wie Real Madrid, das nach Anzeige durch die LFP im Dezember ein Stadionverbot für 17 Anhänger ankündigte, die unter anderem Barças Star Lionel Messi als „behindert“ verunglimpft hatten.
Damals witzelte Barcelonas Trainer Luis Enrique: „Nur 17?“ Er sprach von einem „utopischen“ Unterfangen: „Wenn sie die Leute jetzt wegen Beleidigungen rausschmeißen, werden wir irgendwann allein dastehen, auch ohne Spieler.“ Beschimpfungen gehören zum Fußball, sie waren immer ein Teil seiner Folklore – das findet auch ein Kolumnist von El País, der in der Ligakampagne einen Identitätsverlust sieht: anstelle des „wilden Tribalismus, der unseren Fußball immer charakterisiert hat“, trete ein „Streichelzoo wie im American Football oder der NBA“.
Während die vier Hauptverdächtigen für den Tod des Deportivo-Fans im Gefängnis auf ihren Prozess warten, während insgesamt 144 Beteiligte an der Massenkeilerei mit 60.000 Euro Geldstrafe und fünf Jahren landesweiten Stadionverbots bedacht wurden, ging das letzte Madrider Derby in Atléticos Estadio Vicente Calderón tatsächlich ohne die gewohnten Beleidigungen vonstatten. Nicht jeder hat sie vermisst. „Den Insult aus dem Fußball zu entfernen, ist ein fabelhaftes Vorhaben“, schrieb gerade erst wieder der Chefredakteur der Sportzeitung As. Wer die geifernden Talkshows im spanischen Fernsehen kennt oder die Aggressionen im sonntäglichen Amateur- und Jugendfußball, der kann schon zu dem Ergebnis kommen, dass etwas weniger Verbalinjurie eher ein Gewinn ist denn ein Verlust. Überall, und auch in den Stadien.
Beleidigungen gehören zum Fußball? Früher hieß es mal, Frauen gehören nicht in den Fußball. Die Zeiten ändern sich eben, wie im Camp Nou. Beim jüngsten Heimspiel gegen Málaga wählten die Fans eine unverfängliche Formulierung. Zur Melodie von „Guantanamera“ sangen sie: „Cristiano trinkt kein Wasser.“ FLORIAN HAUPT