: Die Glaubenskrieger
1853–1856 Der Krimkrieg ist der fast vergessene Vorläufer des Ersten Weltkriegs. Orlando Figes schildert den Großkonflikt als Kreuzzug der Religionen und Weltanschauungen
VON MATTHIAS LOHRE
Als alles vorüber war, gab es fast nur Verlierer. Mindestens eine Dreiviertelmillion Soldaten, vor allem Russen, waren auf den Schlachtfeldern und in den Lazaretten gestorben. Wie viele Zivilisten Plünderungen oder einem Granatenregen zum Opfer fielen, hielt niemand fest. Der Krimkrieg war das erste Menschenschlachten des industriellen Zeitalters, sein militärisches und räumliches Ausmaß gewaltig. Doch selbst in jenen Staaten, die sich des Sieges rühmten, war nur wenigen nach Feiern zumute. Sie hatten vieles verloren, aber kaum etwas gewonnen.
Zwei Weltkriege haben den Blick auf das Wüten der Jahre 1853 bis 1856 getrübt. Dabei war die Auseinandersetzung in vielerlei Hinsicht ihr Vorläufer, und für die meisten Europäer des 19. Jahrhunderts war sie der wichtigste militärische Konflikt ihrer Zeit. Nun hat der renommierte britische Historiker Orlando Figes eine Geschichte des Großkonflikts verfasst, der auf dem Balkan und an den Küsten des Schwarzen Meeres wütete. Der Russlandexperte begnügt sich nicht damit, den Forschungsstand auf sehr gut lesbare Weise zu einer rund 700-seitigen Erzählung zu formen. Sondern er deutet den Krimkrieg als „letzten Kreuzzug“: Hier hätten die europäischen Großmächte die Kraft der Volksgläubigkeit nicht einfach für ihre machtpolitischen Ziele eingespannt. Vielmehr hätte es den Krieg ohne den Glauben der Kontrahenten, sie kämpften im Namen des Herrn, gar nicht gegeben.
Das Zarenreich war ein seit dem 17. Jahrhundert scheinbar unaufhaltsam wachsender Riese, der seinen westlichen Nachbarn bedrohlich erschien. An seiner Spitze stand seit 1825 ein zunehmend unberechenbarer Herrscher, Nikolaus I. Ein Mann, der das Militär liebte und nur auf den richtigen Moment wartete, um dem siechen Osmanischen Reich den Todesstoß zu versetzen. Nikolaus träumte, so Figes, den „fantastischen Traum“ eines orthodoxen Reichs mit den Zentren Konstantinopel und Jerusalem. Der selbst erklärte Erbe des 1453 untergegangenen christlich-byzantinischen Reichs strebte demnach nach der Macht über die heiligen Stätten. Das war laut Figes der „Kern des Konflikts“. Der Zar trug damit „mehr Verantwortung als jeder andere für den Krimkrieg“. „Das Russische Reich wurde gleichsam als orthodoxer Kreuzzug verstanden.“
Da ist es, das Reizwort. Die Rede vom Kreuzzug taucht viele Male im Buch auf. So zitiert Figes aus Predigten englischer Priester, die damit Protestanten zum Kampf gegen das „barbarische“ Riesenreich im Osten anspornten. Die aufkommenden Massenzeitungen in Großbritannien beeinflussten mit russophoben Berichten die schwankende Londoner Regierung. Der Chronicle etwa forderte einen Krieg gegen den russischen „Despoten“, „dessen unerträgliche Anmaßung ihn zum Feind aller zivilisierten Nationen gemacht hat“. Figes urteilt: „Dies war ein Krieg – der erste in der Geschichte –, der durch den Druck der Presse und der öffentlichen Meinung herbeigeführt wurde.“
Zur selben Zeit kam im katholischen Frankreich die Haltung auf, das Land müsse den unterdrückten Glaubensbrüdern im russisch kontrollierten Polen zu Hilfe eilen. Der vermeintliche Kreuzzug des Westens aber wandte sich nicht gegen die muslimischen Osmanen, sondern im Bündnis mit ihnen gegen die christlichen Russen.
Wessen Glaubenskrieg?
Rolando Figes ist ein Meister der Verknüpfung von Analyse und Beschreibung. Immer wieder ragen die Gesichter handelnder Personen aus dem Erzählstrom: leidende Fußsoldaten, überforderte Offiziere, schwankende Diplomaten und ein wütender Zar. So entsteht ein Panorama, das die in Schwarz-Weiß-Fotos erstarrte Zeit von damals lebendig werden lässt. Das genügt, um „Krimkrieg“ zu einem brillanten Geschichtsbuch zu machen. Der These vom Kreuzzug aber bedarf es nicht. Sie wirkt sogar willkürlich.
Denn nie wird ganz klar, wer alles in einen Glaubenskrieg zog. Einzig dem Zaren kann der Autor dies glaubhaft nachweisen. Immer wieder erklärt sich der zunehmend wahnhafte Autokrat Nikolaus zum Beschützer orthodoxer Christen im Osmanenreich. Doch sein Wunsch, die russische Einflusssphäre bis nach Nordafrika auszuweiten, lässt sich genauso gut machtpolitisch begründen. Das korrupte Herrscherhaus in Konstantinopel wankte, und die nördlichen Nachbarn wollten ihren Teil vom Kuchen. Da galt es für die Russen, als Erste zuzuschlagen. Und damit schneller als die Franzosen. Großbritannien und Österreich-Ungarn fürchteten die Machtverschiebung. Der französische Kaiser Napoleon III., erst kurz zuvor auf den Thron gekommen, erhoffte einen ruhmreichen Krieg im Bündnis mit den Briten, um seinen schwankenden Rückhalt im Volk zu festigen.
Doch auch ohne Kreuzzugs-These ist „Krimkrieg“ ein Gewinn. Mit seiner Erzählkunst bringt Figes ein großes europäisches Morden zurück ins öffentliche Gedächtnis. Bereits ein halbes Jahrhundert vor der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ war erstmals alles versammelt, was die Selbstzerstörung Europas erst möglich machte. Zugleich zerbrach die „Heilige Allianz“, das Bündnis Österreich-Ungarns, Preußens und Russlands, das ein halbes Jahrhundert lang Revolutionen und Reformen auf dem Kontinent erstickt hatte.
Zu Kriegsbeginn warnte Englands hellsichtige Königin Viktoria: „Wie die Dinge jetzt liegen, scheint es […], dass wir im Verein mit Frankreich das ganze Wagnis eines europäischen Krieges auf uns genommen haben, ohne die Türkei an Bedingungen gebunden zu haben, unter welchen Umständen sie ihn herbeiführen dürfe.“
Sechzig Jahre später warnten deutsche Diplomaten mit ähnlichen Worten vor einer Blankovollmacht des Kaisers für das kriegslüsterne Österreich-Ungarn. Vergeblich. Die wichtigsten Lehren des Krimkriegs waren die, die nicht gezogen wurden.
■ Orlando Figes: „Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug“. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag 2011, 768 Seiten, 36 Euro