Anmut und Melancholie

FILMGESCHICHTE In der Werner-Hochbaum-Retrospektive im Zeughaus Kino ist der Regisseur einer bezaubernden Ambiguität zu entdecken, die den Nazis ein Dorn im Auge war. Als der Krieg begann, durfte er nicht mehr filmen

Alles an diesem dunklen Berlin-Film ist fließend und leicht, nur locker verbunden

VON PETER NAU

Es war zunächst Werner Hochbaums Name, der meine Aufmerksamkeit angezogen hat, und der Titel eines seiner Filme: „Razzia in St. Pauli“ (1932). Als ich diesen Film später sah, erging es mir wie dem Publikum einer Matrosenkaschemme, dessen Reaktionen auf eine musikalische Darbietung er zeigt. Den Klavierspieler, dessen Repertoire soeben noch der Umgebung angepasst war, überkommt auf einmal eine elegische, träumerische Anwandlung, und er bringt ein Nocturne von Chopin zu Gehör. Eine große Veränderung geht daraufhin durch das verräucherte Etablissement. Die Hände der Kartenspieler bleiben unbewegt auf der Tischplatte ruhen. Ein Liebespaar lässt ab von seinen Liebkosungen, beide blicken nun entrückt vor sich hin. Ein Mädchen der Unterwelt scheint für einen Augenblick zugleich verzaubert und erleuchtet zu sein.

Werner Hochbaum hat das verbrauchte, abgestorbene Material des aus der Stummfilmzeit überkommenen Ganoven- und Dirnenfilms durch Verwandlung in eine originale und aktuelle Filmform gleichzeitig aufgedeckt und gerettet. Der Tonfall und die Stimmung dieses Films bleiben mir unvergesslich. Ruhige, wie für sich selbst stehende Dokumentaraufnahmen vom Hamburger Hafen, von einem Fleet mit Lagerhäusern am frühen Morgen, unterbrechen die Handlung und ermöglichen so ein komplexes Sehen des Films, eine Haltung des Zuschauers, in der er nicht aus der Handlung heraus, sondern über sie denkt. Auch die Darsteller agieren in diesem Sinn. „Eigentlich bin ich aus sehr vornehmem Haus, und ein sehr reicher Herr hat mich verführt“, rezitiert Gina Falkenberg in einer ansonsten ganz prosaischen Szene, im Bewusstsein, soeben den Boden der nüchternen Rede verlassen zu haben. Dabei verrät sie, Brechts Intentionen folgend, durchaus ihren eigenen Genuss an der Sprachmelodie.

Werner Hochbaum wurde 1899 in Kiel geboren. 1929 drehte er den Stummfilm „Brüder“, der den Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97 zum Hintergrund hat. Als der Krieg begann, durfte er keine Filme mehr machen. Er starb 1946 in Potsdam. Was konnte man ihm schon vorwerfen? Einfach nur die Anmut und die Melancholie seiner Filme. Der erste hieß „Morgen beginnt das Leben“ (1933). Sein gebrochener Held war als Musiker in einer Berliner Tanzbar engagiert, bis er den zudringlichen Chef seiner Ehefrau im Affekt tötete. Fünf Jahre Haft. Schlaflos verbringt er die letzte Nacht vor seiner Entlassung. Seinen ersten Tag in der Freiheit erlebt er in einem Zwielicht von Depression und aufkeimender Hoffnung.

Hochbaum-Filme in dieser Weise wiederzugeben heißt aber, ihre widersprechenden Momente zu unterdrücken: in diesem Falle die Weichheit, Beschwingtheit, den Liedzauber, die Musik, jenen Tonfall magischer Innigkeit, der ein bisschen auch Max Ophüls’ fast gleichzeitigen Wien-Film „Liebelei“ in Erinnerung ruft. In dem Albtraum dieses einen Tages, an dem der Verlorene auf der Suche nach seiner Frau durch Berlin irrt, ist die volle Erfahrung des äußeren Lebens, inwendig wiederkehrend. Fast immer ist der Umhergetriebene allein. Reglos sitzt er in einem Café, in Träumereien versunken. Er holt eine zerdrückte Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und schüttelt sie, sodass eine Zigarette herausspringt. Er steckt sie in den Mund, raucht.

Durch Simenons Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah“ (1936), wo ein wegen Mordes Gesuchter von Brasserie zu Brasserie, von Café zu Café, von Hotel zu Hotel durch Paris streift, wurde ich mir meiner Vorliebe für Geschichten dieser Art bewusst. Wenn die Helden allein unterwegs sind, kann ihnen jederzeit etwas ganz Unvermutetes begegnen.

Auch in Werner Hochbaums Kaffeehausszene geschieht plötzlich etwas, das überrascht und die Stimmung umschlagen lässt, wenngleich der gedankenverloren und schwermütig an seinem Tisch sitzende Protagonist keine Notiz davon nimmt. In dieser unbeschreiblich schönen Szene, ihrer Einheit von vollkommenem Ernst und heiterem Spiel, findet die Ambiguität des Regisseurs, die den Nazis ein Dorn im Auge war, einen bezaubernden Ausdruck.

Alles an diesem dunklen Berlin-Film ist fließend und leicht, nur ganz locker verbunden, malerisch, lyrisch, stark atmosphärisch. Er weckt Lust darauf, auch die anderen Hochbaum-Filme näher kennenzulernen.

■ Ab 4. März. Programm unter www.dhm.de/zeughauskino/