Auf den Tag genau 200 Jahre später

KÜSSE UND BISSE (12 und Schluss) – Notizen zum Kleist-Jahr: Heinrich von Kleist, das falsche Allgemeine, Erkenntnisse für ein modern gelebtes Leben und das Wetter. Ein November-Tagebuch

VON DIRK KNIPPHALS

1. November. Unnützes Wissen. Plötzlich schwirrt einem durch den Kopf, dass Kleist den Kurfürsten aus dem „Prinz von Homburg“, den Herren über Leben und Tod also, nach dem Vorbild Goethes gestaltet hat. Ein Wissensecho, das aus dem Germanistikstudium herüberweht.

Es fiel mir wieder ein, als ich in den hinteren Regionen des Bücherregals nach dem Reclamheftchen fahndete, in dem ich im Deutschunterricht das Theaterstück gelesen habe. Nicht gefunden. Schillers „Kabale und Liebe“, ja. Den „Werther“, ja. Lessings „Nathan der Weise“, ja, pennälerhaft in „Nathan die Waise“ umgetauft. Aber kein „Homburg“-Bändchen. So leicht ist er dann eben doch nicht unter die Schulklassiker einzuordnen.

4. November. „Homburg“ gelesen, in der zweibändigen Aufbau-Ausgabe, Berlin und Weimar, 1983. Mitte der Achtziger in Ostberlin gekauft, um die DDR-Mark vom Zwangsumtausch sinnvoll loszuwerden. Bei dem Vers „Du hast mir, Glück, die Locken schon gestreift“ habe ich irgendwann, ich weiß nicht mehr den Zusammenhang, das Wort „Glück“ mit einem dünnen schwarzen Filzstift umkringelt.

Überhaupt, diese Stellen! Die Order, die Prinz Homburg „vom Herzen“ empfängt – und dann reitet er überstürzt in die Schlacht. Oder die Szene im Gefängnis, in der Natalie dem Prinzen tatkräftiges Handeln, durch das er begnadigt werden kann, „diktieren“ will, er sich aber besinnt, zu sich kommt und damit erst einmal sein Todesurteil unterschreibt.

Die zentrale Drehung des Stücks lösen gleich Erinnerungen aus. Homburg hat gegen die Befehle des Kurfürsten gehandelt, wird zum Tode verurteilt, bekommt das Angebot, begnadigt zu werden, wenn er es wünscht, will dann aber nach einigem Hin und Her doch die Vollstreckung des Urteils, weil er entdeckt hat zu handeln, „wie ich soll“. Er unterwirft sich dem Gesetz. Dass hiermit ein gültiges Modell des Erwachsenwerdens formuliert wird, daran habe ich tatsächlich einmal geglaubt.

Genau das ist ja der Hintergrund des typisch deutschen Bildungs- und Erziehungsgedankens. Werde du selbst, indem du ein Teil der vernünftigen Ordnung wirst! Mit dem Ergebnis für mich und große Teile meiner Generation, dass man erst einmal überhaupt nicht erwachsen werden wollte. Man wappnete sich für den Moment, in dem einem das einmal bevorsteht: So zu handeln, wie man „soll“ (Brotjob, Familie, Schluss mit den Flausen) – gleichzeitig tat man aber auch alles dafür, diesen Moment so weit wie möglich hinauszuschieben. Die Ordnung, in die man integriert werden sollte, war in den Siebzigern und Achtzigern auch alles andere als attraktiv. Das sogenannte normale Leben ein langer, abgepufferter Fluss bis zur Rente. Und in jedem Teil der beiden Deutschlands standen sich eine Million Soldaten gegenüber, inklusive taktischer Atomraketen. Sich dieser Realität unterwerfen? Nein!

6. November. Bei der Literaturveranstaltung „Open Mike“. Die Autorin Christina Böhm gewinnt einen der Hauptpreise und den Publikumspreis. In ihrer Geschichte sagt eine Dramaturgin unvermittelt: „Das Kleist-Jahr ist durch. Das ist als Thema durch. Das ist durch, das Thema.“

Noch einmal wird Kleist nicht erwähnt; aber man denkt: Untergründig hat die Geschichte eine Menge mit Kleist zu tun. Ein Ich spricht, das keinen Platz hat auf dieser Welt. „Glaubst du wirklich, wir haben auf dich gewartet!“ Etwas später fällt der Satz: „Nicht einmal meine Vorstellungskraft hat die Flügel, die ich als Kind gern gehabt hätte.“ Auch eine irgendwie Kleist’sche Selbstzerknirschung.

In den Pausen des Open Mike steht man herum. Sonnig, klar, warm. Unwillkürlich hält man sein Gesicht in die Sonne. Ein Facebook-Freund hat neulich gepostet: „November, der neue Wonnemonat“. Dann sagt eine Bekannte: „Selbstmörderwetter“. Erstaunen. Sie erklärt: Schließlich hätten Kleist und Henriette Vogel noch stundenlang auf einer Wiese an einem Tisch gesessen und Kaffee mit Rum getrunken, bevor er erst sie und dann sich selbst erschoss. Also müsse das Wetter vor 200 Jahren ähnlich schön gewesen sein.

Abends nachgeschlagen. Es stimmt wohl doch nicht. Der 21. November 1811 war ein „kalter Wintertag“, so zitiert Kleist-Biograf Gerhard Schulz das einschlägige Aktenmaterial in Georg Minde-Pouets Buch „Kleists letzte Stunden“. Die beiden haben sich vielleicht längst unabhängig von Äußerlichkeiten gemacht und Sommer gespielt.

7. November. Veranstaltung im Literarischen Colloquium am Wannsee. Die Zeitschrift Neue Rundschau hat alle 122 Jahrgänge ins Netz gestellt. Ein Herr aus dem Publikum fragt, ob man diesen Wissensschatz nicht mit möglichst vielen vorgegebenen Suchwörtern erschließen könnte. Moderator Lothar Müller verweist darauf, dass die Möglichkeiten individueller Suchoperationen viel wichtiger seien – erst sie würden eine Vielzahl jeweils eigener Zugänge ermöglichen.

Gedacht: genau wie bei Kleist. Die einen wollen einen möglichst objektiven klassischen Kanon. Die anderen setzen auf vielfältige individuelle Zugänge. Ich bin natürlich sofort auf der Seite der individuellen Zugänge. Das war ja auch das, was einen in diesem Sommer an der Kleist-WG in Frankfurt (Oder) so gerührt hat, die bestimmt länger im Gedächtnis bleiben wird als die große Kleist-Ausstellung im Berliner Ephraim-Palais. Schulklassen haben nach Kleist-Motiven jeweils eigene Zimmer gestaltet, von der Graffiti-Illustration bis zur gebastelten Installation, von der rührenden Kinderzeichnung bis zur ausgefeilten Dokumentation von Kleists vielen Reisen durch ganz Europa.

Und noch ein Gedanke im LCB: Ein paar hundert Meter weiter von hier ist doch das Grab. Willst du nicht mal hingehen? Dann aber doch lieber zurück nach Berlin und in die Gegenwart gefahren. Für Spontanbesuche ist die Sache zu heavy.

9. November. Den 20 Jahre alten Ausdruck der Magisterarbeit hervorgekramt. Sie beschäftigte sich mit der Entwicklung der Berliner Schaubühne, 1972 haben sie den „Homburg“ aufgeführt. Nebenerkenntnis: Ah, daher habe ich das mit Goethe und dem Kurfürsten. Der große Germanist Hans Mayer hatte das in seiner Inszenierungsbesprechung für Theater heute erwähnt.

Der Dreh dieser Schaubühnen-Inszenierung – Regie: Peter Stein, Dramaturgie: Botho Strauß – ist bis heute genial. Sie haben eben nicht, wie man das hätte erwarten können, die kritische linke Lesart des Stückes aufgeführt, nach der Homburg von der bestehenden Ordnung gebrochen wird und am Schluss nur noch eine willenlose Marionette ist. Stattdessen haben Stein und Strauß diesen Wunsch nach Versöhnung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen als Traum des Autors Kleists inszeniert und damit in Frage gestellt.

So ist es ja auch in der Realität gelaufen. Seit dieser Inszenierung hat man in der Literaturwissenschaft gerade die Zerrissenheiten des Autors Heinrich von Kleist immer diffiziler herausgearbeitet. Und politisch/gesellschaftlich würde man sich längst lächerlich machen, würde man behaupten, dass sich das Besondere und das Allgemeine ein für allemal vermitteln ließe. Das muss immer wieder neu und – siehe zuletzt Stuttgart 21 – immer wieder mit großem Aufwand bearbeitet werden.

10. November. Wetter schlechter. Grau, kalt. Der Facebook-Freund postet: „Ach, jetzt doch November.“ Dieses „Ach“ ist so nett! Vergleiche das „Ach“ der Alkmene in Kleists „Amphitryon“.

15. November. Redaktionskonferenz. Diskussion, welche Texte man nach den Neonazi-Morden noch in Auftrag geben sollte. Eine Kollegin merkt an, ein Blick auf die Integrationsdebatte sei interessant. Jahrelang habe man von Migranten gefordert, sich in den deutschen Rechtsstaat einzugliedern (Stichwort Ehrenmord), und nun habe man ihnen den Eindruck vermittelt, dass die Institutionen dieses Rechtsstaats sie gar nicht schützen würden, wenn es drauf ankommt.

Gleich wieder an Kleist gedacht. Die Denkfigur, dass man sich möglicherweise in ein falsches Allgemeines integrieren muss, das einen nicht sieht oder einem sogar feindlich gegenübersteht, ist schon noch aktuell, genauso wie die Möglichkeit, dass das ein Spiel auf Leben und Tod werden kann. Zumindest als Gefahr, der immer wieder begegnet werden muss. Und darüber hinaus als leicht unheimliche Bewusstseinsspur, als etwas, vor dem einem gruselt.

Wetter wieder besser. Kalt, aber sonnig. Blätter knistern, wenn man mit dem Fahrrad über sie fährt.

17. November. Die Szene noch einmal gelesen, in der Homburg schaudernd davon berichtet, wie er an dem für ihn schon vorbereiteten Grab vorüberging. Gerade diese Todesfurchtszene, mit der Preußen immer Probleme hatte (ein preußischer Offizier hat keine Todesangst!), die die Nazis aber seltsamerweise gut in ihren Todeskult integrieren konnten, kommt einem heute geradezu ungeheuer modern vor. Es geht um nichts anderes als die mögliche Auslöschung eines individuellen Lebens. „[…] diese Augen […] will man mit Nacht umschatten, diesen Busen mit mörderischen Kugeln mir durchbohren“ (3. Akt, 5. Auftritt). In solchen Szenen geht bei Kleist die kosmologische Einsamkeit auf – es gibt keinen Sinn im Sterben – und zugleich die Erkenntnis, dass jedes Leben nur individuell gelebt werden kann. „Ich will auf meine Güter gehen am Rhein, […] und in den Kreis herum das Leben jagen, bis es am Abend niedersinkt und stirbt.“ Kein schlechtes Motto für ein modern gelebtes Leben. Alles an Leben mitnehmen, was man kriegen kann!

Von da aus weitergedacht. Die Staatsaktion im „Homburg“ mag historisch geworden sein. Aber in seinem eigenen individuellen Leben gibt es eben doch existenzielle Situationen, die genauso, jedenfalls gefühlt, auf Leben und Tod gehen. Wenn bei der Geburt des eigenen Kindes etwas schiefgehen könnte. Wenn die eigene Beziehung zu scheitern droht. Man wird zwar kaum in die Situation kommen, wegen Befehlsverweigerung erschossen zu werden. Aber das Existenzielle ist in der heutigen Angestellten- und Beziehungswelt ins Private gerutscht. Und bis heute liefert Kleist Bilder und Sätze, mit denen man das in seinen inneren Dramen bearbeiten kann.

19. November. Das Reclamheft doch noch wiedergefunden. Es war in die Expressionistenecke hineingerutscht. Mal sehen, zu welchem Anlass ich es wieder hervornehmen werde.

In den Feuilletons zum Abschluss des Kleist-Jahres noch einmal lange Kleist-Texte. Gerhard Stadelmaier erzählt auf Seite eins der FAZ, wie er als junger Kritiker der Stuttgarter Zeitung nicht zu einer Kleist-Premiere fahren durfte. Sein Vorgesetzter empfand es als Skandal, über einen Selbstmörder zu schreiben. Wie viel sich in den vergangenen 30 Jahren doch verändert hat!

20. November. Geschlossene Wolkendecke. 8 Grad Celsius. Fast Windstille. Für morgen werden Wolken, 6 Grad und 20 Prozent Regenwahrscheinlichkeit vorausgesagt.

■ Mit diesem Beitrag endet diese Reihe. Zum Kleist-Jahr druckten wir seit vergangenem Dezember stets am 21. eines Monats Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers, der sich am 21. November 1811 erschossen hat.