: Die Entzweiung einer Familie
LITERATUR Die Dynamik einer familiären Entfremdung nimmt die Schriftstellerin Jamie Attenberg virtuos in ihrer Erzählstruktur auf: „Die Middlesteins“
Elf Wan Tans mit Meeresfrüchten, sechs Frühlingszwiebel-Pfannkuchen, pfundweise Nudeln, Garnelen, Venusmuscheln, Brokkoli, Huhn. Für Edie Middlestein sieht so ein normales Abendessen aus. Anfang 60 ist Edie Middlestein, 150 Kilo schwer, und Diabetes bedroht ihr Leben. Appetit hat sie trotzdem. Von ihren Eltern hat Edie gelernt, „dass Essen aus Liebe gemacht war und wiederum Liebe hervorbrachte“. Dumm nur, dass ihr Mann sie soeben verlassen hat, weil er nicht mitansehen möchte, wie sie sich zu Tode isst.
Eine durchschnittliche jüdische Familie aus einem Chicagoer Vorort scheinen die Middlesteins zu sein. Durchschnittlich zerrüttet, durchschnittlich erfolgreich darin, ihre Konflikte zu verdrängen – bis Edies Ehemann, Richard, sich von ihr trennt und alles durcheinandergerät.
Die in New York lebende Jamie Attenberg, Jahrgang 1971, hat Kurzgeschichten und zwei Romane veröffentlicht, bevor sie mit „Die Middlesteins“ auf der Bestsellerliste der New York Times landete. Ihr Familienroman liest sich auf den ersten Blick wie die Geschichte eines Kontrollverlustes. Attenberg erzählt die Lebensstationen ihrer Protagonistin anhand von deren Gewichtsentwicklung. 28, 73, 95, 109, 151 Kilo. Jede Enttäuschung in Edies Leben wird kulinarisch kompensiert.
Um Kontrolle über das eigene Leben geht es auch den anderen Figuren. Da ist der Ehemann Richard Middlestein, der sich 30 Jahre von seiner Frau schikanieren ließ und nun noch einmal neu anfangen möchte. Da ist die Schwiegertochter Rachelle, die auf einer College-Party einmal Lust über Vernunft siegen ließ, nun das Leben einer Soccer-Mum führt und ihre Familie unter einem Perfektionsdiktat gefangen hält. Etwas plakativ wirkt das Durchdeklinieren der Thematik mitunter – etwa wenn die zwanghafte Rachelle als Reaktion auf Edies Zügellosigkeit ihrer Familie eine strikte Rohkostdiät auferlegt.
Im Grunde aber ist Edies Esssucht für Attenberg nur der Anlass, um etwas Grundlegenderes zu erzählen: die Entzweiung einer Familie. Attenberg erfindet die Form des Familienromans dabei keineswegs neu. Figuren und Plot, das Projekt, die Abgründe der amerikanischen Mittelschicht psychologisch zu durchdringen – das alles hat man so ähnlich schon häufiger gelesen.
Was „Die Middlesteins“ allerdings auszeichnet, ist, wie kunstvoll Attenberg die Dynamik der familiären Entfremdung in ihrer Erzählstruktur widerspiegelt. Denn bei derlei Zwistigkeiten verhält es sich ja so: Irgendwie hat jeder recht, irgendwie hat jeder unrecht. Um das zu verdeutlichen, springt Middlestein virtuos zwischen den Erzählperspektiven hin und her. Mal bekommt man Edies Sicht auf die Welt, dann Richards, dann sprechen plötzlich alte Bekannte des Ehepaares. Immer ist man auf der Seite desjenigen, der gerade dran ist, bis die Perspektive wechselt und alles ganz anders aussieht.
Attenberg erzählt das in einem heiteren, liebevoll ironischen Ton, der ein weiteres familienstreitspezifisches Charakteristikum veranschaulicht. Der Hass, der aus der Liebe entsteht, ist ein schleichender Prozess, in dem sich unausgesprochene Konflikte zu unüberwindbaren Problemen auswachsen. Die unerträgliche Beiläufigkeit dieses Geschehens ist das eigentlich Tragische an „Die Middlesteins“.
Ab und zu allerdings weicht die Erzählstimme von dieser Nonchalance ab und rutscht ins Fatalistische. Dann springt sie aus der Gegenwart der Erzählung in eine ferne Zukunft und teilt etwa mit, wie viele Jahre eine Figur noch brauchen wird, um ihren Alkoholismus zu behandeln.
Hier hätte man sich gewünscht, Attenberg ließe der Fantasie ihrer Leser etwas mehr Freiheit. Denn unfreiwillig illustriert die Autorin an diesen Stellen die Thematik ihres eigenen Romans: zu viel Kontrolle ist genauso schlecht wie zu wenig. Das gilt auch für die eigenen Figurenschicksale. LUISE CHECCHIN
■ Jamie Attenberg: „Die Middlesteins“. Aus dem Amerikanischen von Barbara Christ. Schöffling, Frankfurt a. M. 2015, 264 Seiten, 21,95 Euro