: Leben im Politischen
POLITIK Claus Leggewie hat eine Art Autobiografie geschrieben, „Politische Zeiten“ genannt und als „Beobachtungen von der Seitenlinie“ gekennzeichnet
Claus Leggewie erzählt mit Auslassungen seine eigene Geschichte seit der Geburt 1950, und er ist ein teilnehmender Beobachter der Weltgeschichte. Er sitzt nicht im Elfenbeinturm oder vor dem Fernseher, er steht im Innenraum des Stadions. Manchmal greift er entscheidend ein, etwa als er mit seiner Publikation „MultiKulti“ die Grundlage für Multikulturalismus-Politik in Deutschland definiert, die Daniel Cohn-Bendit ab 1989 als Dezernent in Frankfurt am Main macht. Manchmal sitzt er auch nur in New York in einem Café und spricht mit der Frau am Nebentisch, die Patti Smith ist.
Die „Beobachtungen“ sind ein Buch, das er sich zu seinem 65. Geburtstag Ende März gönnt, das verschweigt er nicht. Weshalb er vermutlich Kritik wird einstecken müssen, seine Vanitas betreffend. Das ist reflexhaft gedacht. Jeder Rockstar erzählt ausschweifend, wie der fünfte Song der B-Seite einer bestimmten Platte entstanden ist. Leggewie ist nicht nur Politikwissenschaftlicher, er ist ein Rockstar des politischen Denkens. Beim Lesen dieses Buches merkt man, dass seine Songsammlung weit über die Hits Multikulturalismus, Globalisierung und Klimakultur hinausgeht.
Eine große Frage lautet: Warum ist er an anderen Punkten herausgekommen als respektable Zeitgenossen mit ähnlicher linksgrüner Themenbiografie? Konkret: Wie kommt es, dass er nicht nur kategorischer EU-Bürger ist, sondern Klimawandelfolgen als das zentrale Zukunftsthema der Gesellschaften besetzt und vorangebracht hat, während andere sich immer noch in die Illusion verbeißen, dass die SPD nur wieder „gerecht“ werden müsse, und dann werde alles gut? Er benutzt dafür im persönlichen Gespräch das Wort „Umschalteffekt“.
Leggewie fährt 1973 als Maoist nach Paris, um mit Jean-Paul Sartre zu sprechen. Er landet bei Andre Gorz, dem Begründer der politischen Ökologie, den er den „Philosophen der Freiheit“ nennt, weil der ihm schon damals klarmacht, dass der Zusammenhang zwischen Ökologie und Freiheit interessanter ist als Maoismus.
Er schreibt auch danach noch klassenkämpferische Texte, aber die Disposition ist da, aus der dann im 21. Jahrhundert der große Coup wird: Leggewie schaltet endgültig vom Modus der Vergangenheitsbewältigung in den Modus der Zukunftsbewältigung um. Er nutzt die Berufung zum Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, um die kulturelle Dimension des Klimawandels zu beschreiben und in die Gesellschaft zu tragen: Der Missing Link in einem Bereich, der zuvor auf Politik, Technologie und Moral reduziert wurde.
Leggewie tut angenehmerweise nicht so, als ob er alles schon immer gewusst hat. Aber selbstverständlich ist da links, wo Leggewie ist. Das heißt: nicht linksnational und auch nicht besessen von CO2-Wachstum wie klassische Sozialdemokraten. Ein linkes Wachstumsprogramm für Europas Süden besteht für ihn aus erneuerbaren Energien, ökologischer Landwirtschaft, sanftem Tourismus und Bildungsgesellschaft.
„Politische Zeiten“ hat einen positiven Grundton. Hier ist einer im Einklang mit seinem bisherigen Leben und auch mit Deutschland, und entsprechend milde geht er mit biografischen Gegnern um. Aber Leggewie ist nicht bloß selbstzufrieden: Der Motor seiner Arbeit und Existenz ist der Glaube daran, dass positive Veränderung möglich ist durch selbstermächtigte Menschen, die sich zusammentun.PETER UNFRIED
■ Claus Leggewie: „Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie“. Bertelsmann, Gütersloh 2015, 480 S., 24,99 Euro