: Jenseits vom Jodeldiplom
In „Heimatklänge“ von Stefan Schwietert wird die alpine Volksmusik rehabilitiert
In einer seiner Sendungen stellte der legendäre Discjockey John Peel in den 80er Jahren der staunenden britischen Hörerschaft die bayrische Jodlerin Maria Hellwig als eine virtuose und authentische Weltmusikerin vor. Für seine deutschen Zuhörer war diese Auswahl und Bewertung eher befremdlich, denn für sie stand die Volksmusikantin auf der gleichen Ebene wie Billy Mo und Heino. Die Eltern und Großeltern hörten das Jodeln gerne: es war und ist für die meisten nicht viel mehr als das akustische Gegenstück zu einer Postkartenansicht aus den Alpen. Dass es auch der Blues der Bergbewohner sein kann, also eine archaische musikalische Form, in der alle Emotionen ausgedrückt werden und die Jodler frei improvisieren können, ist für all jene, die je mit volkstümlicher Musik malträtiert wurden, und die sich dann diebisch über Loriots „Jodeldiplom“ amüsierten, nur schwer zu verstehen. Aber es gibt wohl in allen Kunstformen, egal wie konservativ und klischeehaft sie sich entwickelt haben mögen, irgendwann eine Handvoll von rebellischen Visionären, die zurück zu den Ursprüngen gehen, um einen neuen Zugang zu finden.
Der Schweizer Dokumentarfilmer Stefan Schwietert hat in seiner Heimat drei Stimm-Artisten gefunden, die den Jodelgesang radikal verändern. Einer von ihnen kommt sogar aus Appenzell, der Urlandschaft des alpinen Gesangs. Noldi Alder stammt aus der wohl bekanntesten Volksmusiker-Dynastie der Schweiz. Als Kind reiste er schon mit dem Vater und seinen Brüdern durch die Welt, und feierte als „Alder Buebe“ große Erfolge. Doch dann fühlte er sich durch das Musikgeschäft eingeengt und ging zurück zum traditionellen Naturjodel, den er selber als „Sprache zwischen Mensch, Mensch und Natur“ beschreibt. So jodelt er im Film also im Gebirge, und natürlich ist dies ein tausendmal gesehenes Bild. Doch irgendwie gelingt es sowohl dem Sänger wie auch dem Filmemacher, all die Klischees, die so zwangläufig heraufbeschworen werden, vergessen zu machen. Man spürt, dass da einer wirklich aus dem Moment Musik macht, und die Landschaft, das Wetter und das Echo diesen Klang beeinflussen und so einmalig werden lassen.
Einen ganz andere Weg zu Jodeln ging Erika Stucky, die ihre ersten Lebensjahre im Kalifornien der 60er Jahre erlebte, und dann im Alter von acht Jahren in ein kleines Dorf im Oberwallis zog. Dieser Bruch in ihrer Biografie ist bis heute sehr fruchtbar für sie, denn aus ihm schöpfte sie nicht nur musikalische Einflüsse, sondern entwickelte auch eine Art der autobiografischen Theaterperformance. Wenn sie den Gesang mit englischen Texten verknüpft und als Jazz-Vokalistin ohne Scheu mit anderen Musikstilen vermischt, entsteht dabei eine sehr persönliche und oft erstaunlich komische Variation des Jodlers.
Noch tiefer in der eigenen Persönlichkeit suchte Christina Zehnder nach seinem eigenen Klang. Der ausgebildete Sänger und Stimmpädagoge konzentriert sich auf den nonverbalen Ausdruck der menschlichen Stimme, wobei er das Jodeln mit Obertongesang verbindet und dabei einen sehr expressiven und originellen Stil entwickelt. Der Film begleitet ihn auf einer Reise in die Mongolei, wo er in der Steppe mit den Obertonsängern der Gruppe Huun Huur Tu improvisiert. Stefan Schwietert, der mit Dokumentarfilmen über Musiker wie „A Tickle in the Heart“ und „Accordion Tribe“ bekannt wurde, gelingt es auch hier wieder, eine weithin unbekannte Musikwelt vorzustellen und zugleich die Künstler auf der Leinwand lebendig werden zu lassen. Wilfried Hippen