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Archiv-Artikel

Die Verlegung als Ritual

KUNST Die soziale Plastik „Stolpersteine“ spiegelt verändertes Gedenken

Von JPK

Als Gunter Demnig vor 20 Jahren das Kölner Pflaster aufbrach, um seinen ersten Stolperstein zu verlegen, war das ein Ereignis. Eine offizielle Genehmigung hatte er nicht, das Format war neu und hat tatsächlich den Alltag unterbrochen. Vor allem aber war die Erinnerungsdebatte eine andere als heute. Die Brandanschläge neuer Nazis prägten das Bild eines wiedervereinigten Deutschlands, das den Nationalsozialismus gern vergessen hätte und sich um sein Ansehen sorgte. Schon darum war die Aktion mehr als das technische Anbringen einer Gedenktafel.

Mehr als 50.000 Steine später ist das anders. Längst wurde der „Aufstand der Anständigen“ (Gerhard Schröder) ausgerufen. Bei den Verlegungen sind Politiker als Redner zu Gast oder übernehmen prestigeträchtige Schirmherrschaften. Demnig verlegt mittlerweile hauptberuflich 440 Steine pro Monat. Routine sei das darum aber nicht geworden, beteuert er bei jeder Gelegenheit.

Der innere Widerspruch, den Alltag stören zu wollen und zugleich immer mehr Teil davon zu werden, ist in der Aktion selbst angelegt: Schon der erste Stein zielte auf ein sechs Millionen weitere umfassendes Gesamtdenkmal – und es gebe nichts auf der Welt, schrieb Robert Musil einmal, „was so unsichtbar wäre wie Denkmäler“.

Die Außenwirkung musste sich also verändern. Doch der ursprüngliche Gehalt der Aktion ist immer noch vorhanden – verdichtet im Ritual der Verlegungen. Die Beteiligten haben recherchiert, Nachkommen der Opfer getroffen und sich am Einzelfall individuell das Grauen der Shoah vergegenwärtigt.

Das gibt Demnig recht, wenn er sich auf Joseph Beuys’ Konzept der „sozialen Plastik“ beruft – eine Vorstellung von Kunst also, die veränderbare Gesellschaft als ihren Gegenstand begreift. Dazu zählt auch der Wandel der Gedenkkultur: heute weniger das Eingeständnis von Schuld als ein Ausdruck davon, dass Deutschland aus dem Verbrechen gelernt habe. Daran haben Demnigs Steine fraglos mitgewirkt – dafür sind sie schlimmstenfalls instrumentalisierbar.

Wenn Demnig nun täglich von einer Verlegung zur nächsten eilt, verleiht er langen Vorarbeiten der Recherche-Gruppen einen symbolischen Abschluss. Dabei wird er ausdrücklich als Künstler eingeladen, um dem Prozess eine Bedeutung zu verleihen, die weit über die wissenschaftliche Arbeit von HistorikerInnen hinaus geht.

Vielleicht war darum der moralische Aufschrei so groß, als das Kölner Finanzamt 2011 den Kunstcharakter der Stolpersteine verneinte und sie als Massenware besteuern wollte. Dabei entspricht die Dimension des Projekts doch nur jener des Verbrechens.

Gerade wegen der Kunsthaftigkeit der Stolpersteine lassen sie sich nicht verlustfrei in andere Gedenkformen umwandeln. Ihre Wirkung speist sich aus der ihr von den Akteuren zugemessenen Bedeutung – am Ritual also. Das macht sie so beständig. Und darum lassen sie sich auch nicht auf die Außenwirkung reduzieren.  JPK