Keine Angst vor der Nische

NEUE MUSIK Raus aus der Defensive will Berno Odo Polzer, neuer Leiter der MaerzMusik, das Festival bringen. Er setzt im doppelten Wortsinn auf „Zeitfragen“ und verbindet Konzerte mit einem Diskursprogramm

■ geb. 1974, studierte Archäologie, Musikwissenschaften, Philosophie und Germanistik. Von 2000 bis 2006 war er Kurator und von 2007 bis 2009 Künstlerischer Leiter des internationalen Festivals für zeitgenössische Musik „Wien Modern“. Zudem kuratierte er von 2007 bis 2011 die Festivalreihe „Dialoge“ der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg. Seit 2014 ist er künstlerischer Leiter von MaerzMusik.

INTERVIEW TIM CASPAR BOEHME

taz: Herr Polzer, Festivals für, grob gesagt, neue komponierte Musik stehen oft vor der Frage, wie man die Musik genau bestimmen soll. MaerzMusik hieß früher „Festival für aktuelle Musik“, im neuen Untertitel „Festival für Zeitfragen“ fällt der Musikbegriff komplett weg. Warum?

Berno Odo Polzer: Die Frage der Definition ist total relevant. Es ist ein Symptom der Vielfältigkeit der verschiedenen Praktiken, die mit Klang zu tun haben, die sich nicht mehr so leicht in Schulen und Strömungen fassen lassen. Das Festival „Festival für Zeitfragen“ zu nennen, war keine Entscheidung gegen einen Untertitel, der mit Musik zu tun hat, sondern für das Benennen eines Fragenkomplexes, in dem die Musik stark impliziert ist. „Zeitfragen“ hat für mich diese Doppelbedeutung: Zum einen möchte ich damit andeuten, dass auch ein Festival für aktuelle, zeitgenössische, wie immer man es nennen will, Musik eines sein kann, das sich vor einem größeren, die Gegenwart betreffenden Horizont abspielt. Der zweite Wortsinn von „Zeitfragen“ wäre: sich zu fokussieren auf das Medium, in dem sich Musik bewegt. Es ist zugleich ein Medium, das alle Bereiche des Lebens und Produzierens berührt.

Bei Festivals für Neue Musik schwingt immer auch die Frage mit, wie die Lage dieser Musik überhaupt ist. Zum Großteil führt sie ein Nischendasein. Inwiefern reagiert die Neuausrichtung von MaerzMusik auf diese Situation?

Ich bin ein Gegner von Defensivhaltungen und der Angst, die mit diesem Nischendasein der Neuen Musik verbunden ist. Der Rechtfertigungsdruck für eine Kunstform, der quantitativ bestimmt ist, muss kritisch hinterfragt werden. Es geht mir gar nicht darum, so zu tun, als wären zeitgenössische experimentelle Musikformen populär, aber es geht darum, welche Bedeutungen diese Praktiken haben, was sie sichtbar machen in einem Umfeld, das immer mehr auf Profit und Wachstum ausgerichtet ist. Das ist ein Spannungsverhältnis, das im Normalfall nicht mitgedacht wird, das aber eine wichtige Rolle spielt bei der Verortung der zeitgenössischen Musik in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext.

Sie verweigern sich dem Legitimationsdruck von außen?

Ich würde nicht Verweigerung sagen, eher eine proaktive Reaktion darauf. Diese künstlerischen Projekte im Hinblick auf Zeitlichkeit eröffnen eine Perspektive auf eine Musik, von der wir lernen können, die zum Nachdenken anregt.

Jetzt müssen Sie aber erklären, was „proaktive Reaktion“ heißt.

Ich meinte das als Gegenbegriff zur Defensive. Ich glaube nicht, dass die Neue Musik in einer Rechtfertigungsposition ist oder sein sollte. Das ist ein positiver Vorschlag, diese Musikpraktiken einzubetten in einen größeren Fragezusammenhang.

Also eine selbstbewusste Behauptung der Musik?

Die zeitgenössische Musik hat keinen Grund, nicht selbstbewusst aufzutreten. Es ist völlig verständlich, dass in Zeiten von Reduktionen, die die Kernbestände dieser Musik in Gefahr bringen, sich eine Schutzhaltung oder Angst gegenüber der Zukunft einstellt, aber die Relevanz dieser Kunstform steht außer Frage. Daher ist es eine selbstbewusste, aber keine über-selbstbewusste Haltung.

„Ich glaube, dass in der Art und Weise, wie Kunst produziert wird, etwas politisch viel Subversiveres und Brisanteres liegt als im Deklarieren politischer Haltungen“

BERNO ODO POLZER

Wie zeigt sich das im Konzertprogramm von MaerzMusik?

Ich habe besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie sich das Festival rhythmisch in diesen zehn Tagen bewegt. Ich finde es interessant, musikalisch von gewissen Standardsituationen abzurücken, ohne dadurch das Konzertformat als solches zu schwächen. Das beginnt mit einem langen, sehr flüssigen Format, „Liquid Room“, und geht weiter mit vier Einzelprojekten, die eine eigene Rhythmizität aufweisen. Wenn Sie meinten, wie das mit dem nicht angstbesetzten Auftreten zusammenhängt, dann findet sich das zum Beispiel darin wieder, dass ich es nicht problematisch finde, Stück noch einmal zu spielen. Wir müssen uns nicht dem Leistungsdruck hingeben, nur das Neue zu präsentieren. Von daher finden sich ganz bewusst Wiederholungen im Programm. Es geht um Entspannung in diesem sehr angespannten Umfeld.

„Liquid Room“ hat, wie viele andere Projekte, nicht nur mit Zeit-, sondern auch mit Raumgestaltung zu tun. Warum nicht daraus ein Festival für „Zeit und Raum“ machen?

Das könnte man machen, das klingt nur nicht so gut. Die Räume sind immer essenziell für die Musik, nicht nur akustisch. Auch die symbolische Kraft, die Räume an Atmosphäre emanieren, ist eine interessante Arbeitsebene. Nicht alle Musikformen funktionieren in allen Räumen gleich gut, ich möchte daher mit den Räumen und nicht gegen sie arbeiten. Die Zeitfragen sehe ich jedoch nicht als apodiktisches konzeptuelles Korsett, sondern als Fokus, von dem man abweichen kann.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Werke ausgesucht?

Es gibt eine Reihe von Arbeiten, die sich explizit mit der Frage von Zeit auseinandersetzen. Das reicht von „Liquid Room“ über Reflexionsräume wie John Cages „Diary“, der über 30 Jahre lang Zeitgeschichte mitbeobachtet, bis zum Abschlussprojekt „The Long Now“. Wichtig war für mich außerdem, künstlerische Positionen zu präsentieren. Georges Aperghis ist ein gutes Beispiel. Ich habe ihm einen kleinen Fokus gewidmet, weil er in seiner autonomen Arbeitsweise ganz wichtig ist, wie er sich zur Gesellschaft verhält, wie er sich ganz konkret in minoritäre Räume begeben hat. Abgesehen davon, dass er einer der wichtigsten französischen Komponisten der Gegenwart ist und in Berlin kaum präsent war. Es gibt in diesem Jahr eine Tendenz, Stücke zu wählen, die sich die Zeit nehmen, sich zu entfalten.

Beim 30-stündigen Projekt „The Long Now“ im Kraftwerk stellt sich die Frage, warum eine Form wählen, bei der ein Teil der Zuhörer wohl nicht in der Lage sein wird, das gesamte Programm bewusst zu erleben.

■ Am 20. März eröffnet die erste Ausgabe von MaerzMusik unter der Leitung von Berno Odo Polzer im Haus der Berliner Festspiele mit „Liquid Room“ und endet am 29. März im Kraftwerk Berlin mit dem 30-stündigen Programm „The Long Now“. Aufgeführt werden unter anderem Werke von Michael Gordon (21. 3.), Zeena Parkins (22. 3.), Georges Aperghis (23.–25. 3.) und Chaya Czernowin (24. 3.). Tagsüber gibt es begleitend das Diskursprogramm „Thinking Together“. Informationen unter www.berlinerfestspiele.de.

„The Long Now“ ist ein Erlebnisraum. Die Idee war, einen Raum zu schaffen, in dem sich Zeitwahrnehmung jenseits der vorgegeben Strukturen, die die gängigen Rezeptionsformen mit sich bringen, entfalten kann. Das ist ein Angebot einer Extremerfahrung, nicht um ihrer selbst willen, sondern im Wissen darum, dass die Eigenzeit dieser Stücke in Kombination mit diesem Raum eine starke Verbindung eingehen kann. Ich glaube nicht, dass die Leute es nicht in ihrer Gesamtheit erleben können. Man kann dort die Nacht verbringen und auch essen.

MaerzMusik beginnt mit dieser Ausgabe auch ein Diskursprogramm. Ist „Thinking Together“ ein Festival im Festival?

Es sind komplementäre Räume. Das Abendprogramm ist ein Erfahrungsraum. Und „Thinking Together“ ist ein Reflexionsraum, der sich dazu auf komplexe Weise verhält. Es wird Fragestellungen geben, die nicht unmittelbar mit dem Festival in Verbindung stehen, aber in einem größeren Gedankenraum mit ihm zusammenhängen. Wir laden die Besucher ein, sich an diesen gemeinsamen Praktiken zu beteiligen.

Ein wenig scheint das Diskursprogramm anzuknüpfen an die Nachkriegsdebatten über die Möglichkeit, die Gesellschaft durch Musik zu verändern.

Wir haben seit der Nachkriegszeit gelernt, dass gewisse Formen des plakativen Einforderns des Politischen sich beim zweiten Nachdenken als weniger politisch erweisen als viele der implizit politisch wirksamen künstlerischen Positionen. Ich glaube, dass in der Art und Weise, wie Kunst produziert wird, etwas politisch viel Subversiveres und Brisanteres liegt als im Deklarieren politischer Haltungen. Die Praxis als Begriff, die Art und Weise, wie wir leben und produzieren, interessiert mich sehr. Von den expliziten Einforderungen wird man jedoch nichts finden bei „Thinking Together“.