Zerlegte Texte, schwitzende Körper

NORDISCHE KUNST Das Nordwind-Festival in Hamburg verspricht, außergewöhnlich zu werden: Die ersten Aufführungen waren geprägt von hohem Energielevel – und verschwindenden Zuschauern

Sichtlich stolz steht Regisseur Kristian Smeds schließlich inmitten zerrissener Papprequisiten, Weinlachen und leerer Wodkaflaschen

Auf dem Vorplatz gibt es derzeit eine öffentliche Sauna. Schlicht sieht sie aus, wie ein Geräteschuppen oder eine Baustellenbaracke. Aber sie funktioniert, und deshalb stehen am Eröffnungsabend des Nordwind-Festivals zwei dampfende Männer im Eingangsbereich der Hamburger Spielstätte Kampnagel, bekleidet nur mit einem Handtuch um die Hüften.

Die Premierengäste freut’s. Die beiden Männer werden fotografiert und beglückwünscht, schließlich zeugen sie von einem entspannten Umgang mit dem Dreckwetter und schüren die Hoffnung auf ein bisschen Nestwärme beim Besuch dieses Festivals, das Theater und Musik aus den Nordischen Ländern nach Hamburg bringt.

Zwei Theaterstücke gab es am Auftaktabend, und aus der Nestwärme wurde bei beiden nichts. Die finnische Gruppe Nya Rampen zerlegte Shakespeare, der ebenfalls finnische Regie-Star Kristian Smeds tat das nämliche mit Dostojewski. In beiden Fällen spielten Musik und Körpereinsatz tragende Rollen. In beiden Fällen blieb von den Ausgangstexten nicht viel übrig. Und in beiden Fällen lichteten sich die Zuschauerreihen während der zwei respektive viereinhalb Stunden dauernden Vorstellung: Für einige war dieser Tobak dann offenbar doch zu stark.

Das Stück „Worship!“ der Gruppe Nya Rampen spielte in einer Bühnenlandschaft aus abstrakten Bühnenteilen: Eine schiefe Ebene, zwei aufeinandergestapelte Rechtecke, eine Hütte mit schiefem Dach. Innerhalb der Szenerie dann eine unberechenbare Truppe, die über düsteren Soundflächen Shakespeare-Texte im englischen Original rezitiert – und dazu tanzt, sich prügelt, liebt.

Die Texte stammen aus Dramen wie „Hamlet“ oder „Macbeth“ und die Idee war, sieben Szenen aus den Texten zu extrahieren, die auf den sieben Todsünden basieren. Von den mitunter dezidiert runtergeratterten Texten allerdings ist nichts zu verstehen. Dafür drehen die Schauspieler immer mehr ab und aus der Schere zwischen Shakespeare und hochenergetischer Slapstick-Blödelei entsteht irgendwann eine Lachanfälle provozierende Komik. Ob das so gemeint war? Keine Ahnung.

Beeindruckende Energie entfesseln derweil nebenan auch Kristian Smeds und seine estländischen Schauspielschüler. Vier Jahre lang hat sich das finnisch-baltische Theaterexperiment mit Fjodor Dostojewskis monumentalem Roman „Die Brüder Karamasow“ auseinandergesetzt und daraus viereinhalb Stunden szenisches Rockspektakel gebastelt – auf der Suche nach dem Karamasow in uns allen.

Statt Rollen festzulegen, werden diese hier durcheinandergewirbelt, zu den Brüdern kommen Karamasow-Schwestern, talentierte Schauspieler verwandeln sich in Schlagzeuger, Geigerinnen und Sänger, die nicht minder überzeugend ihre selbstgeschriebenen Songs rocken – von Balladen über wüsten Death Metal bis zu Postpunk. Und wer in der nächsten Szene den Dmitri, Iwan oder Alexej gibt, wird schon mal vom Publikum bestimmt. Welches dann umso betretener mit ansehen muss, wie der Erwählte kurz darauf von den Verlierern auf den Tisch gefesselt, beschimpft, gequält und gedemütigt wird.

Zu recht sichtlich stolz ist Smeds schließlich inmitten zerrissener Papprequisiten, Weinlachen und leerer Wodkaflaschen. Das Theater hat er gerade vielleicht nicht neu erfunden. Aber einem Dutzend junger Menschen, den „12 Karamasows“, den Mut und die Mittel mitgegeben, das irgendwann selbst in die Hand zu nehmen.

Möglicher Weise trifft man sie auch wieder im Rahmen des Nordwind-Festivals, das seit seiner ersten Ausgabe im Jahr 2006 immer weitere Kreise zieht. Ansässig ist das Festival in Berlin und findet in diesem Jahr zum ersten Mal auch in Hamburg statt. Ein Grund ist, dass die Macher Hamburg als „Tor zum Norden“ erkannt haben. Ein anderer, Grund ist, dass es in Hamburg Kampnagel gibt – eine Institution, die das seltene Format hat, ein experimentelles Festival dieser Art nicht nur aushalten, sondern auch als Koproduzent unterstützen zu können. KLAUS IRLER, ROBERT MATTHIES

Nordwind-Festival: bis 16. 12., Hamburg, Kampnagel