piwik no script img

Archiv-Artikel

Die unwürdige Kolonie

Klaus Schnellenkamp veröffentlicht einen erschütternden Bericht über seine 33 Jahre in der berüchtigten Sekte „Colonia Dignidad“

Die deutsche Sekte „Colonia Dignidad“ in Chile sorgte jahrzehntelang für Aufsehen. Vor allem dem Sektengründer Paul Schäfer wurden Menschenrechtsverletzungen und kriminelle Machenschaften vorgeworfen, so dass er 1996 fliehen musste. Unter dem Deckmantel der Nächstenliebe hatte er ein Terrorregime aufgebaut. Erst 2005 konnte Schäfer verhaftet und im vorigen Jahr wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und illegalem Waffenhandel zu zwanzig Jahren Haft verurteilt werden.

Als Augusto Pinochet 1973 durch einen Putsch an die Macht kam, wurde „die ‚Kolonie der Würde‘ zum professionellen Folterzentrum im Auftrag des chilenischen Geheimdienstes“, wie Klaus Schnellenkamp in dem fesselnden Buch über die ersten 33 Jahre seines Lebens schreibt. Er wird 1972 in der Sekte geboren. Sein Vater ist ein enger Vertrauter Paul Schäfers.

Von der Identität seiner Eltern und Geschwister erfährt Klaus Schnellenkamp jedoch erst Ende 1989, als die Sekte ins Visier des chilenischen Staates gerät. Denn in der Kolonie wachsen die Kinder ohne Eltern in Gleichaltrigengruppen auf, nach Geschlecht streng getrennt. Schnellenkamp beschreibt die Colonia Dignidad sehr überzeugend als „Staat im Staate, faschistisch organisiert, ein Mikrokosmos, der von Angst, Misstrauen, Schuldgefühlen lebt, von Demütigung, Folter und Psychopharmaka“. Das Arsenal der Sanktionen reicht von Essensentzug über Elektroschocks bis zu psychischer Folter und blutigen Geißelungen.

Jedes Vergehen führt Schäfer auf sexuelle Ursachen zurück. Vor dem Schlafengehen müssen die Schüler beten, um „gegen Angriffe des Satans mit seiner bösen Fleischeslust“ gewappnet zu sein. Wer die Zeit von anderthalb Minuten für Toilettengänge überschreitet, muss wegen „sexueller Teufeleien“ mit Folter rechnen. Während einerseits alles Sexuelle tabuisiert wird, erweist sich Schäfer andererseits als pädophiler Sadist. In seinem „Lusttempel“ müssen die Jungen und Jugendlichen „Liebesdienste“ leisten.

Nach Schäfers Flucht lockert sich das Regime in der Kolonie etwas. Aber es dauert bis ins Jahr 2004, als Schnellenkamp, inzwischen 31 Jahre alt, in Santiago am deutschen Berufsbildungszentrum eine Ausbildung beginnen kann. Das Leben außerhalb der Sekte führt zu einem Freiheitsschock. Er muss vieles neu lernen und sich in der Welt „draußen“ erst zurechtfinden. Im Jahr 2005 gelingt ihm der Ausstieg aus der Sekte und die Ausreise nach Deutschland. Als er bald nach der Ankunft krank wird, ruft ihn sein Schwager aus der Kolonie in Chile an und macht ihm Vorhaltungen. „Kein Wunder, dass es dir dreckig geht. Wer die Gemeinde Gottes verlässt, muss mit der Hölle rechnen.“

Schnellenkamps Darstellung ist nichts für schwache Nerven. Der Autor wollte das Trauma seiner Kindheit und Jugend aufarbeiten. Entstanden ist ein erschütternder Bericht über eine völlig fremde Welt, den man nicht so schnell vergisst. RALF ALTENHOF

Klaus Schnellenkamp: „Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad“. 238 Seiten, Herbig, München 2007, 19,90 Euro