: Israel und das ,Problem des Bösen‘
Tony Judt, Historiker an der New York University, hat den diesjährigen Hannah-Arendt-Preis erhalten. Wir dokumentieren Auszüge aus seiner Festrede: Wenn die Shoah zur Münze im politischen Streit wird, verlieren wir die Fähigkeit, die normalen Sünden zu unterscheiden von dem echten Bösen
Von Tony Judt
Es ist eine große Ehre für mich, heute hier in Bremen zu sein. Angesichts berühmter früherer Empfänger des Hannah-Arendt-Preises bin ich sehr stolz, mich unter ihnen einreihen zu dürfen. Außerdem ist es mir eine besondere Freude, einen Preis zu bekommen, der nach Hannah Arendt benannt ist. (...)
Mein erstes Arendt-Buch, das ich im Alter von fünfzehn Jahren gelesen habe, war Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Dieses Buch bleibt für mich die bezeichnende Arendt-Schrift. Ich mochte das Buch nicht, als ich es zum ersten Mal las – ich war ein begeisterter junger sozialistischer Zionist, und Arendts Schlussfolgerungen beunruhigten mich zutiefst. Doch mit den Jahren habe ich begriffen, dass Eichmann in Jerusalem Hannah Arendt in Höchstform zeigt: ein schmerzliches Thema frontal in Angriff nehmen; mutig von der herrschenden Meinung abweichen; eine Debatte nicht nur unter ihren Kritikern, sondern auch und besonders bei ihren Befürwortern herausfordern; und vor allem den bequemen Frieden der landläufigen Meinung stören. In Erinnerung an Arendt, die ,Unruhestifterin‘, werde ich Ihnen einige Gedanken zu dem Thema anbieten, das sie mehr als jedes andere in ihren politischen Schriften beschäftigte.
Hannah Arendt schrieb 1945 in einer ihrer ersten Abhandlungen nach dem Kriegsende in Europa: ,Das Problem des Bösen wird die fundamentale Frage des geistigen Lebens nach dem Krieg in Europa sein – so wie der Tod die fundamentale Frage nach dem letzten Krieg wurde‘. (...)
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand jedoch die Verherrlichung der Gewalt weitgehend aus dem europäischen Leben. Während dieses Krieges richtete sich die Gewalt nicht nur gegen Soldaten, sondern vor allem gegen Zivilisten. (...) Die Frage, wie Menschen das einander antun konnten – und mehr als alles andere die Frage, wie und warum ein europäisches Volk – die Deutschen – sich aufmachte, um ein anderes – die Juden – zu vernichten, würde, das war für eine aufmerksame Beobachterin wie Arendt klar, die obsessive Frage sein, mit der sich der Kontinent konfrontiert sehen würde. Das ist es, was sie mit dem ,Problem des Bösen‘ meinte. (...)
Weit entfernt davon, in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über das Problem des Bösen zu reflektieren, wandten sich die meisten Europäer entschlossen davon ab. Heute fällt es uns schwer, das zu verstehen, doch Fakt ist, dass die Shoah – der versuchte Völkermord an den Juden Europas – zunächst nicht die zentrale Frage der Intellektuellen im Nachkriegs-Europa war. Die meisten Menschen – Intellektuelle und andere – ignorierten sie so gut sie konnten.
Warum? (...) Sogar im Nachkriegs-Westdeutschland war die anfängliche Stimmung eine des Selbstmitleids mit Deutschlands eigenem Leiden. Niemand – nicht die Deutschen, nicht die Österreicher, nicht die Franzosen oder Holländer oder Belgier oder Italiener – wollte sich an das Leid der Juden erinnern oder an das spezifische Böse, welches es hervorgerufen hatte. (...) Das mangelnde Interesse an der Shoah in jenen Jahren kann ich aus meiner eigenen Erfahrung bestätigen ... und obwohl ich jüdisch bin und Mitglieder meiner eigenen Familie in den Todeslagern umgebracht wurden, erschien es mir damals nicht seltsam, dass das Thema nicht erwähnt wurde. Das Schweigen schien normal.
Wie Sie wissen, begann sich nach den Sechzigerjahren alles zu ändern, aus vielerlei Gründen: unter anderem wegen der verstrichenen Zeit und der Neugier einer neuen Generation. Seit den 1990-er Jahren sind offizielle Entschuldigungen, nationale Gedenkstätten, Denkmäler und Museen gang und gäbe; und sogar im postkommunistischen Osteuropa hat das Leid der Juden begonnen, seinen Platz im öffentlichen Gedenken einzunehmen. Heute ist die Shoah eine universelle Referenz. (...) Es scheint, als ob Hannah Arendts Prophezeiung wahr geworden wäre: Die Geschichte des Problems des Bösen ist nun ein grundlegendes Thema der europäischen Intellektuellen.
Ist jetzt also alles in Ordnung?
Ich bin mir da nicht so sicher. (...) Denn die traurige Wahrheit ist, dass die meisten Leute während des Zweiten Weltkriegs nicht über das Schicksal der Juden Bescheid wussten, und wenn sie es wussten, so kümmerte es sie nicht besonders. Es gab nur zwei Gruppierungen, für die der Zweite Weltkrieg vor allem ein Vorhaben war, um die Juden zu vernichten: die Nazis und die Juden selbst. Für alle anderen hatte der Krieg ganz andere Bedeutungen: Sie hatten ihre eigenen Sorgen. Wenn wir also darauf beharren, so wie wir es heute tun, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs vor allem – und manchmal ausschließlich – durch das Prisma des Holocaust zu lehren, so lehren wir vielleicht gute Moralvorstellungen, aber keine gute Geschichte. Wenn wir die wirkliche Bedeutung des Bösen – das, was Hannah Arendt meinte, als sie es ,banal‘ nannte – begreifen wollen, dann müssen wir uns daran erinnern, was wirklich entsetzlich an der Vernichtung der Juden ist; nicht, dass sie so viel, sondern dass sie so wenig bedeutete. (...)
Wenn Auschwitz und der Völkermord an den Juden für das einzigartige Böse stehen, warum werden wir dann laufend gewarnt, es könne überall passieren oder stünde erneut unmittelbar bevor? Wann immer jemand die Mauer einer Synagoge in Frankreich mit antisemitischen Graffitis beschmiert oder ein russischer Politiker nostalgische Gefühle für Stalin bekundet, werden wir gewarnt, dass ,das einzigartige Böse‘ wieder um uns ist, dass alles wieder wie 1938 ist. Wir verlieren die Fähigkeit zu unterscheiden: zu unterscheiden zwischen den normalen Sünden und Verrücktheiten der Menschheit – Dummheit, Vorurteil, Demagogie und Fanatismus – und dem echten Bösen. (...)
Die Gefahr unserer gegenwärtigen Beschäftigung mit dem Völkermord an den Juden ist, dass wir uns an ein großes Böses erinnern, jedoch auf Kosten des Vergessens der vielen kleineren, mit denen wir uns auch befassen sollten. (...)
Das Gleiche gilt für unsere gegenwärtige Faszination für das Problem des Antisemitismus und unser Beharren auf seiner einmalige Bedeutung. Antisemitismus ist genau wie Terrorismus ein altes Problem. Aber Antisemitismus ist ebenso wie Terrorismus nicht das einzige Böse in der Welt und darf keine Entschuldigung dafür sein, andere Verbrechen und andere Leiden zu ignorieren. Wenn wir ‚Terrorismus‘ oder Antisemitismus von ihrem jeweiligen Kontext abstrahieren, sie als größte Gefahr für die westliche Zivilisation und Demokratie oder unsere Lebensart‘ auf ein Podest setzen und ihren Vertretern mit einem unbegrenzten Krieg drohen, dann laufen wir Gefahr, die vielen anderen Herausforderungen unserer Zeit zu vernachlässigen. (...)
Seit seiner Geburt 1948 hatte der Staat Israel ein komplexes Verhältnis zur Shoah. Einerseits lieferte die Beinahevernichtung von Europas Juden die Grundlage für den Zionismus: Die Überzeugung, dass es für Juden unmöglich wäre, in nicht jüdischen Ländern zu überleben und sich zu entwickeln, dass ihre Integration und Assimilation an europäische Nationen und Kulturen ein tragischer Irrglaube war und dass sie einen eigenen Staat brauchten. Andererseits bedeutete die weitverbreitete israelische Sicht, dass die europäischen Juden zu ihrem eigenen Untergang beitrugen, sie, wie es hieß, ,wie Lämmer zur Schlachtbank‘ gingen, dass Israels ursprüngliche Identität sich auf das Zurückweisen der jüdischen Vergangenheit gründete sowie auf die Behandlung der jüdischen Katastrophe als ein Zeichen der Schwäche: Eine Schwäche, die zu überwinden Israels Schicksal war, indem es eine neue Art von Juden hervorbrachte.
In den letzten Jahren hat sich das Verhältnis zwischen Israel und dem Holocaust jedoch verändert. Wenn sich Israel heute internationaler Kritik wegen seiner Fehlbehandlung der Palästinenser und der Kolonisierung der Gebiete, die es 1967 erobert hatte, ausgesetzt sieht, ziehen seine Verteidiger es vor, die Erinnerung an den Holocaust zu betonen. Wenn Israel zu heftig kritisiert wird, so warnen sie, werden die Geister des Antisemitismus heraufbeschworen; sie behaupten sogar, dass eine offensive Kritik an Israel – Antizionismus, wenn Sie so wollen – nicht nur Antisemitismus hervorruft. Es ist Antisemitismus. Und mit dem Antisemitismus ist der Weg nach vorn – oder zurück – frei: zum Jahr 1938, zur „Kristallnacht“ und von dort nach Treblinka und Auschwitz. Wenn Sie wissen wollen, so sagen sie, wohin Antizionismus führt, müssen Sie nur Yad Vashem in Jerusalem besuchen, das Holocaust-Museum in Washington oder unzählige Gedenkstätten in ganz Europa.
Ich verstehe die Emotionen hinter diesen Behauptungen. Doch die Behauptungen selbst sind außerordentlich gefährlich. Wenn mir gesagt wird, dass ich meine Kritik an Israel besser nicht zu laut äußern sollte, aus Angst, die Geister des Antisemitismus heraufzubeschwören, dann antworte ich, dass es genau andersherum ist.
Die heutigen Studenten müssen nicht an das Problem des Bösen erinnert werden, an die historischen Folgen des Antisemitismus oder den Völkermord an den Juden. Sie wissen alles darüber – ganz anders als ihre Eltern. Und so soll es auch sein. Doch es hat mich getroffen, wie oft Studenten mich in den letzten Jahren gefragt haben: ,Warum lernen wir nur etwas über den Holocaust?‘ oder ,Warum ist dieser Fall so besonders?‘ oder ,Wird die Bedrohung durch Antisemitismus nicht übertrieben?‘ oder – und immer öfter – ,Dient der Holocaust für Israel nicht als Entschuldigung, sich zu verhalten, wie es will?‘ In den 1980-er Jahren habe ich diese Fragen nicht gehört, und in den 1990-er Jahren habe ich sie nur in bestimmten Teilen Osteuropas gehört. Heute höre ich sie immer öfter, überall.
Meine Befürchtung ist, dass zweierlei passiert ist. Durch die Betonung der historischen Einzigartigkeit des Holocaust und die gleichzeitige Bezugnahme auf ihn, wenn es um heutige Vorkommnisse geht, haben wir die jungen Menschen verwirrt. Und wenn wir jedes Mal, wenn jemand Israel angreift oder die Palästinenser verteidigt, ,Antisemitismus‘ schreien, so ziehen wir Zyniker heran. Denn die Wahrheit ist, dass Israel heute nicht in existentieller Gefahr ist. Heute sind die Juden hier im Westen keinen Bedrohungen oder Vorurteilen ausgesetzt, die im Entferntesten mit den damaligen vergleichbar wären – oder vergleichbar mit den Vorurteilen gegen andere Minderheiten.
Fragen Sie sich selbst: Würden Sie sich heute sicherer, akzeptierter, willkommener fühlen als Muslim in den USA? Als Pakistani in England? Als Marokkaner in Holland? Als ,beur‘ in Frankreich? Als Schwarzer in der Schweiz? Als ,illegaler Einwanderer‘ in Dänemark? Als Rumäne in Italien? Als Türke in Deutschland? Als Zigeuner irgendwo in Europa? Oder würden Sie sich sicherer, integrierter, akzeptierter fühlen als Jude in all diesen Orten? Ich denke, Sie kennen die Antwort. Ich weiß, ich kenne sie.
Wenn es eine Bedrohung für die Juden – und jeden anderen – gibt, so kommt sie aus einer anderen Richtung. Wir haben die Erinnerung an den Holocaust so fest mit der Verteidigung Israels verbunden, dass wir Gefahr laufen, die moralische Bedeutung dieser Erinnerung zu schmälern und sie zu provinzialisieren. Das Problem des Bösen im letzten Jahrhundert, um Hannah Arendt noch einmal zu bemühen, mag sich in der Form eines Versuchs der Deutschen gezeigt haben, die Juden zu vernichten. Aber es betrifft nicht nur die Deutschen, und es betrifft nicht nur die Juden. Es betrifft sogar nicht nur Europa, obwohl es hier geschehen ist. Das Problem des Bösen – des totalitären Bösen oder genozidalen Bösen – ist ein universelles Problem. Doch wenn es ständig für eigennützige oder regionale Zwecke verwendet wird – um Israel zu verteidigen oder Antisemitismus zu geißeln oder Kritiker der amerikanischen Außenpolitik zum Schweigen zu bringen – dann wird die Erinnerung an das Böse bald seine Universalität verlieren. (...)
Was heute für Westeuropäer offensichtlich erscheint, ist für viele Osteuropäer unklar, so wie es vor vierzig Jahren auch für Westeuropäer unklar war. Die moralischen Lektionen von Auschwitz, die sich überdimensional auf der Erinnerungsleinwand der Europäer abzeichnen, sind für Asiaten oder Afrikaner weitgehend unsichtbar. Und, vielleicht zuallererst, was für die Menschen meiner Generation offensichtlich scheint, wird für unsere Kinder und Enkelkinder sehr wenig Sinn ergeben. Also: Wie können wir eine europäische Vergangenheit bewahren, die nun von einer Erinnerung zu Geschichte verblasst?
Ich bin mir nicht sicher, dass wir es können. Was ich aber weiß, ist, dass die Geschichte, wenn sie ihren Auftrag erfüllen soll, den Nachweis vergangener Verbrechen und von allem anderen für immer zu bewahren, dann muss sie in Ruhe gelassen werden. Wenn wir die Vergangenheit für heutige Ziele instrumentalisieren – die Stücke herausfiltern, die unseren Zwecken dienen können, oder die Geschichte heranziehen, um einfache moralische oder politische Lektionen zu erteilen – werden dabei schlechte moralische Grundsätze und eine schlechte Geschichtsschreibung herauskommen.
Einstweilen sollten wir alle vielleicht etwas mehr aufpassen, wenn wir vom Problem des Bösen sprechen. Denn es gibt mehr als eine Art von Banalität. Es gibt die berühmte Banalität, von der Arendt gesprochen hat – das beunruhigende, normale, nachbarliche, alltägliche Böse in den Menschen. Aber es gibt noch eine andere Banalität: die Banalität der Überbeanspruchung – der verflachende, desensibilisierende Effekt, der eintritt, wenn wir dieselbe Sache zu oft sehen oder sagen oder denken, bis wir schließlich unser Publikum betäubt und immun gemacht haben gegen das Böse, das wir beschreiben. Und das ist die Banalität – oder ,Banalisierung‘ – vor der wir heute stehen.
Die Generation unserer Eltern hat nach 1945 das Problem des Bösen beiseite geschoben, weil es – für sie – zu viel Bedeutung enthält. Die Generation nach uns läuft Gefahr, das Problem beiseite zu schieben, weil es nunmehr zu wenig Bedeutung enthält. Wie können wir das verhindern? In anderen Worten, wie können wir sicherstellen, dass das Problem des Bösen die fundamentale Frage für Europas Intellektuelle bleibt? Ich kenne die Antwort nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es die richtige Frage ist. Es ist die Frage, die Hannah Arendt vor sechzig Jahren gestellt hat, und ich glaube, sie würde sie auch heute noch stellen.
Übersetzung von Ute Szczepanski. Das ungekürzte Redemanuskript steht unter www.mehr-dazu.de