Endlich wieder vom Orm durchrauscht

LINDWURM Walter Moers’ neuer Abenteuerroman aus Zamonien: „Labyrinth der Träumenden Bücher“

VON KATHARINA GRANZIN

In Kalk, noch ungelöscht, in Eisenbrei / in Salz, Salpeter, Phosphorgluten, / in dem Urin von ross’gen Eselsstuten, / in Schlangengift und in Altweiberspei, / in Hundeschiss und Wasser aus den Badewannen, / in Wolfsmilch, Ochsengalle und Latrinenflut: / In diesem Saft soll man die Kritikerzungen schmoren.“ So lässt Walter Moers einen Nachwuchsautor dichten, der sich in der Stadt Buchhaim mit Marionettenspiel über Wasser hält. Sein tiefempfundenes Anti-Literaturkritiker-Gedicht „sprach mir jedenfalls regelrecht aus der Seele“, muss der Erzähler, der hochmögende Hildegunst von Mythenmetz, zugeben.

Das lässt tief blicken in die sensible Dichterpsyche. Denn Hildegunst von Mythenmetz ist nicht eben ein Stiefkind des Erfolgs, sondern, als Vertreter der Daseinsform der Lindwürmer ohnehin mit der Begabung zur Dichtkunst gesegnet, einer der berühmtesten Schriftsteller Zamoniens. So berühmt allerdings, dass er vor lauter Lobhudelei vorübergehend jegliche Fähigkeit zur Selbstkritik verloren hat, wie er in der Rückschau einräumt, und zudem auch noch vom Orm [Lehnwort aus dem Zamonischen. Übers. in etwa: „dichterische Inspiration“] verlassen wurde.

So stellt sich die Ausgangssituation in „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ dar, dem sechsten Zamonien-Werk aus der Werkstatt des Walter Moers, der seinerseits mittlerweile nur noch als Übersetzer aus dem Zamonischen und Illustrator fungiert und die Autorenrolle gänzlich an Hildegunst von Mythenmetz abgetreten zu haben scheint. Dieser gestandene Lindwurm, der bereits seinen vierten Zamonien-Roman vorlegt, ist jedoch in den letzten 200 Jahren – so lange liegt sein Abenteuer in den Katakomben Buchhaims, der „Stadt der Träumenden Bücher“ (2004), schon zurück – zum reichlich bequemen Plagiator seiner selbst geworden. Aus diesem Zustand wird er eines Tages durch einen seltsamen Brief gerissen, der ihn, auch da er seinen eigenen, ormlos gewordenen Stil perfekt imitiert, derart aufstört, dass er sich umgehend auf den Weg nach Buchhaim macht. Die Stadt der Träumenden Bücher hatte er, seit sie am Ende des Vorgängerromans abgebrannt war, nicht mehr betreten.

Das neu aufgebaute Buchhaim ist natürlich ein anderes als damals. Noch immer ein büchernes Schlaraffenland, bestehen seine Mauern zum Teil sogar aus – versteinerten sowie unversteinerten – Druckwerken. Sein kulturelles Leben aber hat sich gewandelt. Eine gewisse Kommerzialisierung ist nicht zu übersehen, und die Buchwelten gehen zusehends in parallele Zeichensysteme über oder werden von diesen gespiegelt. Vor allem ist neben die Buchwelt eine auffällige performative Spielart des Geschichtenerzählens getreten, der sogenannte Buchhaimer Puppetismus, der das städtische Leben stark prägt und weit mehr ist als bloßes Puppenspiel.

Dieses hat sich vielmehr in der Stadt derart verfeinert, dass sich Hildegunst von Mythenmetz angesichts dieses Phänomens zu einer „Mythenmetzschen Abschweifung“ (ein von ihm erfundenes, schon in früheren Romanen eingeführtes Stilmittel) hinreißen lässt, worin er es in all seinen Spielarten erläutert. Wir erfahren vom Radikalpuppetismus, vom Barokkokopuppetismus, von der Mumienmarionettik und dem Taxidermischen Puppetismus, um nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zu nennen. Alles, aber auch alles wird in Buchhaim puppetistisch umgesetzt, und Mythenmetz nimmt dieses manische Primat des Performativen bei aller anhaltenden Faszination nicht völlig unkritisch hin. „Der Zamonische Imperativ von Manu Kantinel“ beispielsweise sehe „als Puppe einfach bescheuert aus“, bescheidet er kurz und bündig. Da Kürze jedoch ansonsten keine Mythenmetzsche Stärke ist, darf man dem Übersetzer dankbar sein, der wieder einmal zum Rotstift gegriffen und die Mythenmetzsche Puppetismus-Abschweifung auf gesundes Mittelmaß eingedampft hat.

Die fortgeschrittene Kunst der Abschweifung übrigens, so weit seien arglose Leser gewarnt, ist es im Übrigen auch, die diesen Roman, wenn wir ihn denn so nennen wollen, als Ganzes prägt. So faszinierend seine einzelnen Episoden auch sein mögen, so wird doch das zu seinem Beginn implizit gegebene Versprechen niemals eingelöst. Es war ja, wie wir uns erinnern, ein Brief gewesen, der Mythenmetz erst auf den Weg geschickt hatte. Der letzte Satz jenes Schreibens hatte kommende dramatische Ereignisse ahnen lassen, die jedoch bis zum Romanende keineswegs eingetreten sind. Was übrigens auch von der Tatsache klargestellt wird, dass das Buch mit dem Satz „Hier fängt die Geschichte an“ endet.

Mit ebenderselben Wendung begann „Die Stadt der Träumenden Bücher“. Damit wird zweierlei deutlich: Zum einen handelt es sich bei diesem Werk insgesamt um eine groß angelegte Mythenmetz’sche Abschweifung auf Metatextebene. Zum anderen biegen wir spätestens mit dem nächsten Band – über dem der Übersetzer, wie er in seinem Nachwort tröstend erläutert, bereits brütet – in eine Erzählschleife ein, von der man bei aller ostentativen Rekursivität nicht wirklich sagen kann, wohin sie uns führen wird. Auf jeden Fall wohl endlich in das bereits für dieses Mal großspurig im Titel angekündigte Labyrinth.

Eine Sache immerhin konnte sich schon in diesem Band klären: Zu seinem Ende wird Mythenmetz endlich wieder vom Orm durchrauscht. Nur so konnte es ihm ja auch möglich werden, dieses Opus zu Papier zu bringen. Und wir werden uns natürlich sehr hüten, unsererseits etwas darüber zu schreiben, das die Unversehrtheit unserer Kritikerzunge gefährden könnte.

Walter Moers: „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“. Knaus Verlag, München 2011, 432 Seiten, 24,99 Euro