: Das geht nicht nur sächselnd
THEATER Die Geschichte einer Zurichtung: Das Drama „Jochen Schanotta“ von dem beinahe vergessenen DDR-Dramatiker Georg Seidel wird von Frank Abt als Labor verschiedener Lebensversuche inszeniert
VON ESTHER SLEVOGT
„Man hätte das nie mitmachen dürfen“, sagt Jochen Schanotta gleich zu Anfang auf der leergeräumten Bühne. Er erzählt die Geschichte einer Zurichtung mit leicht sächselndem Tonfall, wie sie die Diktion vieler DDR-Bürger einmal gekennzeichnet hat. Kurz zuvor haben sechs Schauspieler an der hinteren Bühnenwand ein Transparent mit dem Stücktitel „Jochen Schanotta“ angeheftet und sich auf darunter stehende Stühle gesetzt. Einer von ihnen tritt vor, wird Jochen Schanotta und schraubt seinen Blick mit koketter Ironie ins Publikum, um den Eröffnungstext zu sprechen.
Von der DDR und ihren totalitären Bedrückungen erzählt dieses Stück und über einen, der darin seine Individualität zu wahren versucht. Der Dramatiker Georg Seidel hat es in den letzten Lebensjahren dieses Staates geschrieben, den er nur knapp überlebte – 1945 geboren, starb Georg Seidel wenige Monate nach dem Mauerfall an Krebs. Doch „Jochen Schanotta“ ist eben keine allein auf die DDR gemünzte Geschichte, sondern eine, die ganz grundsätzliche Fragen stellt: Wie kann und soll man in dieser heillosen Welt überhaupt leben? Fragen, wie sie bereits die Protagonisten in den Stücken Georg Büchners stellen, an dessen Sprache der irisierende poetische Realismus von Georg Seidel geschult ist. Er wirkt manchmal fast wie ein Wiedergänger Büchners im 20. Jahrhundert, und doch haben seine Texte einen ganz eigenen Tonfall.
Weil die 17 ebenso kurzen wie bedrückenden Szenen des Stücks eine ganz universell gültige Geschichte erzählen, spricht Andreas Döhler, der Jochen Schanotta nun in den Kammerspielen des Deutschen Theaters spielt, den Eröffnungstext gleich dreimal. Erzählt einmal ironisch sächselnd, dann deutlich rebellisch und schließlich fast resignativ, wie er als frisch eingeschultes Kind zum ersten Mal schmerzlich am eigenen Leibe erfuhr, dass seine individuellen Flügel gestutzt und er in die nivellierende Norm der Gesellschaft gepresst worden ist.
Seidels Protagonist ist ein achtzehnjähriger Schulabbrecher, Kind einer alleinerziehenden Mutter. Er ist einer, der immer wegwill, aber nicht weiß, wohin. Der die Bedrängung der Gesellschaft nicht erträgt, ihr aber nichts entgegenzusetzen hat außer einen diffusen Widerwillen, der ihn eher lähmt als weiterbringt. In einer jungen Fabrikarbeiterin, die er kurz und heftig liebt, findet er eine Weile eine Verbündete. Für Momente erlebt er fast so etwas wie Glück und Freiheit mit ihr. Aber weil auch hier die Vereinnahmung droht, entzieht sich Schanotta wieder.
In einer der schönsten Szenen des Abends toben Kathleen Morgeneyer, die im Deutschen Theater die junge Frau mit dem anspielungsreichen Namen Klette spielt, und Andreas Döhler ausgelassen umeinander herum – in alten Pelzmänteln, die als Bärenverkleidung dienen. Immer wieder verschlingen sie sich gegenseitig, werden wilde Umarmungen zur erstickenden Umklammerung. Spaß und Ernst sind bedrohlich ununterscheidbar, wie die berühmten Küsse und Bisse bei Kleist. Doch ein Entkommen gibt es nicht. Am Ende holt das Militär Jochen Schanotta.
Frank Abt hat das Stück mit Schauspielern besetzt, die längst keine Jugendlichen mehr sind. Da ist Andreas Döhler in der Titelrolle, der dieser filigranen Figur eine fast woyzeckhafte Wucht mitgibt, eine ebenso abgründige wie selbstzerstörerische Lebensgier. Kathleen Morgeneyer als dünnhäutige proletarische Elfe Klette von fast beängstigender Emotionalität verkörpert sehr eindrucksvoll das utopische Moment, das jedes Liebesversprechen als Lebensversprechen immer auch hat: „Das Leben ist schön“, sagt sie zu Schanotta. „Fangen wir an. Komm.“ Aber Schanotta kommt nicht.
Daniel Hoevels, Thomas Schumacher und Simon Brusis schlüpfen in verschiedene Figuren, die die repressive Gesellschaft vertreten, der Schanotta zu entgehen versucht. Dass ihnen die konkrete DDR-Zuordnung entzogen ist, gibt ihnen parabelhafte Züge. Niemand ist wirklich die Figur, die er spielt. Man neigt sich ihr kurz zu, streift sie flüchtig im Spiel und ist wieder fort und Teil der skizzenhaften Versuchsanordnung, als die Frank Abt seine Inszenierung angelegt hat. Mit nichts als ein paar Lampen als Bühnenbild (Anne Ehrlich), die als Zeichen für die verschiedenen kleinen Lebensversuche in billigen Wohnquartieren am Bühnenhimmel hängen. Und einer Wand, die wechselnde Mauern und Grenzen markiert, an die Schanotta alias Andreas Döhler immer wieder stößt. Oder hinter die er sich zurückzuziehen versucht, vor der dominanten Mutter zum Beispiel. Natali Seelig spielt die Mutter und versteht mit einer kaum spürbaren Monotonie in Blick und Stimme, ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie schnell ein Leben zum Gefängnis werden kann.
■ „Jochen Schanotta“. Wieder am 21. Dezember, 2. + 14. Januar in den Kammerspielen des Deutschen Theaters