DVDESK : Blicke schlagen ein wie ein Blitz
Benoît Jacquot: „Deep in the Woods. Verschleppt und geschändet“. Mit Nahuel Pérez Biscayart, Isild le Besco u. a. Frankreich 2010, ab ca. 15 Euro im Handel
Der junge Mann ist ein Streuner, und er sieht ungepflegt aus: die Zähne schwarz, die Haare kraus, die Hände schwielig. Sein Blick fällt auf eine junge Frau beim Kirchgang, die das ganze Gegenteil von ihm ist: engelhaft schön, fromm, Tochter aus gutem Haus. Ihr Blick jedoch fällt zurück auf den Mann, der auf den Stufen zur Kirche in die Ecke gedrängt sitzt: Da ist es um die beiden geschehen. Er, Timothée, folgt ihr, Joséphine, beobachtet sie, gelangt in ihr sicheres Heim, gewinnt Gewalt über sie mit nicht geheuren Mitteln, Hypnose, Berührung, man sieht, aber versteht nicht genau. Er vergewaltigt sie, verschleppt sie, tagelang ziehen sie durch die Wälder.
Es klingt nach einem eindeutigen Fall. Er ist der Verbrecher, sie ist das Opfer; er der Teufel, sie der Engel. Das wäre so, spürte man nicht ihre wachsende Komplizität. Sähe man nicht das Lächeln in ihrem Gesicht, pflegte sie nicht die Wunde in seiner Hand, flöhe sie nicht mehr als einmal und kehrte zu Timothée zurück. Alles wäre ganz klar, tanzte sie nicht mit ihm auf dem Fest, genösse sie nicht sichtlich den Sex, spielte sie nicht aus eigener Lust mit dem Feuer, übernähme sie nicht recht schnell das Kommando. Das jedenfalls ist es, was man sieht oder zu sehen glaubt im Gesicht der Isild le Besco, über das die Lust und das Leid, Ingrimm und Begehren in rascher Folge und nie eindeutig entzifferbar ziehen.
Zugrunde liegt diesem Film ein historischer Rechtsfall aus dem Jahr 1865. In diese Zeit ist die Handlung auch wirklich gelegt. Der Fall ist fürs französische Recht von Bedeutung. Im Prozess, der Timothée nach der Verhaftung gemacht wird, wird das erste Mal in der französischen Rechtsgeschichte die Frage nach dem Bewusstsein als entscheidende Frage gestellt. Wusste Joséphine, was sie tat? Und selbst wenn: War sie in der Lage, sich gegen das zu wehren, was ihr widerfuhr? Sie sagt nein und schildert die hexerische Gewalt, die Timothée über ihren Willen, ihr Inneres hatte. Da war sie, sagt sie, wehrlos; der Film streut da mit Bedacht Zweifel und erlaubt die Lesart, es handelte sich um eine viel gewöhnlichere Perversion, nämlich Liebe. Blicke schlagen ein wie ein Blitz, coup de foudre, man weiß nicht mehr, was man tut, zieht Lust aus der Unterwerfung unters Gefühl der Abhängigkeit, zieht Lust aus der Macht, die man selbst hat.
Die Wahrheit des Zweideutigen
Benoît Jacquot, der als Assistent von Marguerite Duras begann und als junger Mann zwei Filme über den Psychoanalytiker Jacques Lacan drehte, weiß jedenfalls ganz genau, was er tut. Wie schon zuletzt in seinem Film „Villa Amalia“ zeigt er eine Frau, die auf der Flucht zu sich selbst kommt, aber so, dass sie in diesem Selbst nicht behaust, sondern für sich selbst eine Fremde und Unbegreifliche ist. Dieses Sich-selbst-fremd-und-unbegreiflich-Sein nimmt sie im Privaten an und verweigert sich ihm in einem Prozess, in dem das alles zur Sprache kommt. In die Sprache gehört es für Joséphine nicht. Gesten, Bewegungen, Blicke, Körper haben gesprochen und alles war zwischen Leid und Lust unklar. Vor Gericht, in der Sprache wird eine Eindeutigkeit hergestellt, die falsch ist, weil jede Eindeutigkeit falsch ist. Nur das Zweideutige, sagt der Film, ist hier das Wahre.
„Au fond des bois“ – die DVD wird leider unter dem lächerlichen Titel „Deep in the Woods. Verschleppt und geschändet“ verkauft – ist ein fremdartiger Film. Er zeigt Unerklärtes, hinreißend schön, aber kühl. Jacquot mystifiziert nicht, sondern seziert. Die Musik von Bruno Coulais, dissonant, harsch, ist eine eigene Kraft, bleibt auf Abstand, rumort für sich, lässt den Bildern und Gesichtern und Schnitten ganz ihren eigenen Wert. Coulais komponierte seine Musik auf Grundlage des Drehbuchs, das erfährt man im der DVD beigegebenen Interview mit Jacquot. Sie war fertig zu Drehbeginn und ist so eine unsichtbare Quelle der Bilder; sie kehrt in der Postproduktion zurück als Fremde ins eigene Haus. Wie Joséphine. Ich ist ein anderer, der zugleich fremd und vertraut ist. EKKEHARD KNÖRER