piwik no script img

Archiv-Artikel

Nackt im Dorf

In einem Städtchen draußen im Land begeben sich merkwürdige Dinge. Die Lokalzeitung huldigt dem Bürgermeister, der Wirt schlägt seinen Kellner. Kumpanei und Kungelei. Aber gibt es das nicht vielerorts? Doch dann schreibt einer über alles im Internet. Ob man die Geschichte glauben kann? Vielleicht. Vielleicht will man nicht. Und vielleicht erkennt mancher ja auch sein Städtchen da in Baden-Würt-temberg wieder

von Anna Hunger

Es war einmal ein Städtchen, das war einigermaßen wohlhabend, dank der guten Luft, der Rad- und Wanderwege, des Golfplatzes und der Reitgelegenheiten. Es lag irgendwo zwischen Bergen mit saftigen Tannen und Tälern mit würzigen Weiden, ein hübscher Ort mit viel sauberem Fachwerk, uraltem Kopfsteinpflaster und einem duftenden Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus. Im Sommer war dieses Örtchen geranienbepflanzt, im Winter mit Schnee bedeckt, dann sah es aus wie ein praller, bezuckerter Muffin. Es war ein Tourismusort par excellence und auf den ersten Blick ein Ferienidyll erster Klasse.

Die Gäste blieben, um ihren Urlaub zu genießen, aber nie lange genug, um die zweifelhaften Seiten dieses Städtchens kennenzulernen, die jeder Ort hat, der nur weit genug in der Abgeschiedenheit liegt.

Die Einwohner kannten sich alle untereinander, viele, sehr viele waren irgendwie miteinander verwandt, und man hatte sich gut eingerichtet in diesem Ort, weitab von allen Großstädten. Wenn der eine etwas brauchte, half der Nächste damit aus. Wenn es ein Problem gab, kehrte man es gemeinsam unter den Tisch. Ein paar hatten hier das Sagen, weil das viel einfacher war, als viele mitreden zu lassen, und mitreden wollte sowieso keiner. Warum auch, sie waren doch alle glücklich mit ihrem kleinen Leben. Es kam selten vor, dass einmal einer hineinzog, die Leute zogen eher fort.

Im Biergarten gilt die Regel: Draußen nur große Pils

Aber irgendwann kam ein Mann in diesen Ort, er nannte sich Donnerzorn, kaufte sich ein Haus und zog samt Familie dorthin. Donnerzorn kam von weit hinter den Bergen, die dieses Städtchen umringten. Er war ein recht wohlhabender Mann mit gut laufenden Geschäften und einigermaßen gescheit.

Man beschnupperte sich, wie das so üblich ist – der Neue das Dorf und das Dorf den Neuen. Das Ergebnis: Donnerzorn betrachtete sich zwar als weltgewandten Europäer und die Dorfbewohner eben als Dorfbewohner, aber sonst mochte man sich ganz gut leiden.

Bis Herr Donnerzorn einmal mit einer Menge Gäste im ortsansässigen Wirtshaus (es hieß Zur Post, wie alle ortsansässigen Wirtshäuser in kleinen Orten) einkehrte und ein paar Bier bestellte, kleine Pils, weil es warm war, Sommer, 36 Grad. Anscheinend, so die Geschichte, gab es kleine Pils aber nur im Innenraum und nicht draußen auf der Terrasse, wo Donnerzorn samt Entourage Platz genommen hatte. Dort gab es nur große Pils, halbe Liter, zu viel für einen heißen Sommertag. Herr Donnerzorn war einigermaßen erbost, kamen doch seine Gäste von weither und wollten eben nur ein kleines Bier. Aber als alles nichts half, zog er mit versammelter Mannschaft wieder ab. Und beschloss, dieses Etablissement nie wieder zu betreten.

Vor lauter Entrüstung verbreitete er nun im ganzen Städtchen die Geschichte der nicht vorhandenen kleinen Pils. Der Gastwirt seinerseits verbreitete die Geschichte der ungeheuren Unflätigkeit Donnerzorns gegenüber der Bedienung.

Der Neue nimmt kein Blatt vor den Mund

Und so wuchs nach und nach ein veritabler Streit zwischen diesen beiden Männern heran. Man grüßte sich nicht mehr, begegnete sich abwechselnd mit Zorn und Herablassung, und im Laufe dieser kleinen Männerfehde bemerkte Donnerzorn, dass es in diesem Örtchen weniger idyllisch zuging als zunächst vermutet.

Nun war es natürlich so, dass Donnerzorn eben der Neue war, ein Zugezogener, ohne Verwandtschaft und Unterstützung in der Bevölkerung. Er war laut, wo alle hier leise waren. Er war verschwenderisch, wo sie alle hier sparten. Er war ehrlich, was den meisten nicht passte, und zuweilen – das merkten die Einwohner schnell – etwas unangenehm. So unangenehm, dass man ihm verschiedentlich riet, ein bisschen vorsichtiger zu sein mit seinem Mundwerk, wolle er hier Fuß fassen.

Der Internetautor schreibt von Kumpanei und Kungelei

Aber das ließ er sich nicht bieten. Donnerzorn schmiss grade aus Protest Runden Bier und Schnaps, wo das sonst keiner tat, er legte sich mit der Blumenverkäuferin an (mit dem Bankdirektor, der gesamten Bierbraugesellschaft, der Metzgerin, dem Leiter der Grundschule und dem Lehrerkollegium und dem Handballverein), mit den Nachbarn (Donnerzorn war passionierter Nudist und zog ab und zu schon mal blank in seinem Garten) und sogar mit dem Bürgermeister.

Es habe einen Verleger gegeben, sagt die Geschichte, der veranlasst habe, dass aus diesem Ort nur das Positive zu berichten sei. Und weil Herr Donnerzorn fand, dass es dementgegen sehr viel Negatives gab, beschloss er, einen Online-Blog einzurichten und all das Übel aus diesem Ort ans Licht zu bringen. Zunächst, so sagt man, fand er heraus, dass der Verleger der Bruder des ehemaligen Bürgermeisters gewesen sei und deshalb das Städtchen recht gut im Griff gehabt habe. „Kumpanei“, fand Donnerzorn und berichtete davon in seinem Blog.

Er berichtete von Hunden, die in seinen Garten kackten, fotografierte Autos, die in Kurven parkten, gleichfalls unsinnige Straßenbeschilderungen oder mutmaßlich gefährliche Baustellen. Er berichtete über Artikel aus der Lokalzeitung, die Bücher aus dem zeitungseigenen Verlag anpriesen, die ihrerseits in der autoreneigenen Kneipe promotet wurden. Donnerzorn nannte das „Klüngelei“. Er bemerkte, wie ein Mann langsam alle frei werdenden Immobilien vom Markt kaufte, um sie zu horrenden Summen zu vermieten, bis der Quadratmeterpreis eher zu München passte als zu diesem winzigen Ort. Wenn ein anderer ein Haus kaufen wollte, soll der Mann schon mal gedroht haben.

Er fand, dass der Kämmerer keinesfalls mit der Chefin der Zentralverwaltung verheiratet sein dürfte und dass der Bürgermeister seinen Titel nicht wert sei, hatte er doch ein Bauprojekt angestoßen, einen prestigeträchtigen Neubau, der zwar eine Menge Geld kostete, letztlich aber von kaum einem bewohnt werden wollte. Die Sparkasse sei nun über die kommenden Jahrzehnte damit beschäftigt, monatlich horrende Zinsen zu zahlen, vermutete Donnerzorn.

Es gab wohl einen Fotografen, der fotografierte zwölfjährige Jungs und fand, das sei Kunst. Der Bäcker pimperte hinter dem Rücken seiner Frau mit der Bäckereifachverkäuferin, und wenn der Bäcker selbst keine Zeit hatte, kam der Metzger bei ihr vorbei, und wenn der auch keine Zeit hatte, eben der Schlachter. Ein ortsansässiger Frauenarzt soll sich extra ein Fotostudio in einer weit entfernten Großstadt angemietet haben, um seine tägliche Arbeit dort mit freiwilligen Patientinnen fotografisch zu dokumentieren, erzählte Donnerzorn.

Der Bruder des Schultes habe sich sogar einmal einen Porsche geliehen, um in den nächstgelegenen, mit einem Bordell ausgestatteten Ort zu fahren, so erzählt man sich hier. Es soll sogar zwei Geschäftsmänner gegeben haben, die sich damit brüsteten, mit der ehemaligen Edelhure Rosemarie Nitribitt („Das Mädchen Rosemarie“) geschlafen zu haben, und manchmal wollte Donnerzorn beobachtet haben, wie der Bäcker mit einer Handvoll Viagra-Pillen und vorgeschobenem Gemächt durch seine Bäckerei stiefelte und erzählte, puh!, er habe eine so anstrengende Nacht hinter sich, er könne unmöglich aufrecht gehen.

Man findet den Blogger gut, wagt aber nicht, ihn zu grüßen

Donnerzorn empörte sich. Ein „Schweinekaff“, polterte er. „Sodom und Gomorra.“ Zu einer Bürgermeisterwahl beklebte er den ganzen Ort mit gehässigen Anti-Bürgermeister-Aufklebern, ließ einen ebenfalls gehässigen Karnevalswagen bauen und ihn beim Umzug mitfahren, verbreitete, dass der Wirt aus dem Wirtshaus mit nur großen Pils seinen Angestellten zuweilen unmenschlich anbrülle. Ein anderes Mal soll er gesehen worden sein, wie er seinen Angestellten sogar verhauen hat. Donnerzorn erzählte jedem, der es wissen wollte, dass der Totengräber munter die Wohnungen verstorbener alter Damen ausräume, ohne einen Auftrag dafür zu haben. Oder solche von Mietprellern! Das ganze Zeug habe der Totengräber dann auf Flohmärkten verschachert oder im Städtchen verschenkt.

Donnerzorn hatte sich mittlerweile mit seiner kleinen Online-Zeitung eine gewisse Berühmtheit erarbeitet. Er schrieb, wie der Bürgermeister Entscheidungen traf und der Rest das tat, was der Bürgermeister gut fand. Oder dass der Wirt des Wirtshauses mit den großen Pils auch der Vorsitzende des Karnevalsvereins war, der Bierbraugenossenschaft, des Tourismusamts und des Museumsvereins und deshalb das Städtchen mit ein paar ausgewählten Kumpels nach seinem Gutdünken lenkte und dass das ja eigentlich eine gediegene „Vetternwirtschaft“ sei.

Bis zu 600 Klicks hatte Herr Donnerzorn nach einiger Zeit täglich auf seiner Homepage zu verzeichnen, bis zu anderthalbtausend bei wichtigen Ereignissen (so sagt er). Manche druckten sich das Blättchen aus und verteilten es im Dorf, viele schrieben unter Donnerzorns Texte Gratulationen und Dankesbriefe: „Endlich sagt's mal einer!“ oder „Endlich gibt es einen, der sich traut, das Maul aufzumachen!“ oder „Mehr von der Wahrheit!“. Aber sie hatten kaum den Mumm, so erzählte Donnerzorn, ihn auf der Straße zu grüßen, weil sie Angst hatten, keinen Kredit mehr von der Sparkasse oder keine Baugenehmigung mehr vom Rathaus zu bekommen, wenn sie sich auf seine Seite schlügen. In diesem Ort waren ja alle irgendwie miteinander verbandelt und viele im Städtchen fanden, Herr Donnerzorn sei ein Hetzer und Lügner. Einer hatte sogar einmal angeboten, 25.000 Euro an einen gemeinnützigen Verein zu spenden, nur damit der Donnerzorn samt seiner Sippschaft aus dem Städtchen verschwinde.

Wo jahrhundertelang alle irgendwie an einem Strang gezogen hatten, spaltete sich die Gesellschaft nun langsam in eine Pro- und Contra-Donnerzorn-Partei.

Irgendwann klopfte eine Frau an seine Tür, eine Südländerin, schlechtes Deutsch, etwas hilflos und die Putzfrau des Wirtshauses Zur Post. Sie berichtete, der Wirt habe sie unsittlich angefasst. Genauer: er habe ihr im Wäschekämmerchen des Wirtshauses recht grob an dieselbige gewollt. Das nicht nur einmal, sondern mehrfach, sogar jahrelang. Na ja, sagte der Wirt, das sei alles freiwillig passiert. Ein Teil der Einwohnerschaft fand, das sei eben Usus in diesem Haus, das habe der Vater schon mit seinen Angestellten gemacht, und dessen Vater, und dessen Vater. Andere regten sich fürchterlich auf, schrien „Rufmord!“ und erteilten Donnerzorn, so sagen sie, Hausverbot in einigen Wirtshäusern dieses Städtchens.

Andere wiederum fanden, die Geschichte sei glaubhaft, zumal sie von Donnerzorn höchstselbst aufgegriffen worden sei, und mieden das Wirtshaus in der Zukunft. Vor Kurzem tauchten sogar einige Bilder auf, die die Frau in Strapsen und schwarzen Spitzendessous zeigten. Die habe der Bruder des Exbürgermeisters gemacht, erzählte Donnerzorn herum. Man habe ihr etwas in den Tee getan, sagte die Südländerin.

Donnerzorn besorgte der Frau einen Anwalt, und der Ort war ratlos.

Langsam wird der Streit zur Gewohnheit

Donnerzorn und der Wirt stritten sich viele Jahre – über zu große Biere, die Frage der Qualität des Essens und die der Hygiene im Wirtshaus und natürlich über die südländische Frau und ihre Geschichte.

Aber langsam wurde dieser Streit zur Gewohnheit und mit ihm auch Donnerzorn. Er wurde zu einem Teil dieses kleinen Örtchens am Rande der Welt, weil jedes Dorf einen braucht, der ein bisschen Krawall macht und die verteidigt, die sich nicht alleine verteidigen können.

Ob man die Geschichte glauben kann? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber wenn er nicht gestorben ist, dann quengelt Donnerzorn noch heute. Und in einer kleinen, verwinkelten Gaststube zwischen der Sparkasse und dem Dorfladen sitzt der Bäcker des Städtchens und lässt langsam eine Handvoll blauer Pillen auf den Tresen rieseln. „Das wird eine anstrengende Nacht“, sagt er. Und die Bedienung? Die zwinkert ihm zu.