: Beim Denken ist jeder allein
Kraken klettern einen Mast hoch und Kaninchen rauchen: Selten wird die Vergeblichkeit, andere am eigenen Bewusstseinsstrom teilhaben zu lassen, so raffiniert und elegant ausgestellt wie bei Heinz Emigholz im Werkraum des Hamburger Bahnhofs
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Es gibt viel zu sehen. 550 Fotodrucke nach Zeichnungen hat Heinz Emigholz in seiner umfangreichen Werkschau im Hamburger Bahnhof aufgehängt, und auf jedem einzelnen der Blätter kreuzen sich die unterschiedlichsten Stränge der Bilderzählung. Ein Fesselballon segelt auf einen Strand zu, während auf dem Rand der Gondel drei Radfahrer im Kreis fahren. Kraken klettern einen Mast hoch, Kaninchen, von denen wir nur die Köpfe sehen, rauchen in einem Versuchslabor. Hunde ziehen an Schnüren, die im weiteren Bildverlauf zu Nervenbahnen eines Gesichts werden. Ein Kind nuckelt an seiner Decke, Menschen stürzen ab. Und immer wieder durchschlagen projektilähnliche Formen die unterschiedlichen Bildebenen: Flugzeuge, entgleiste Eisenbahnzüge, Pfeile, Spitzen, Schrauben.
Die Welt, die Heinz Emigholz Blatt für Blatt in einen surrealen Countdown schickt, ist voller Action, Unfälle, Abenteuer und Gefahr. Es lohnt die Mühe, sich durch das satte Schwarzweiß dieser Bildwelt zu arbeiten. So schematisch der einzelne Gegenstand erfasst wird, so komplex ist die Kombination der Dinge. In der fotografischen Übersetzung der Zeichnungen erhöht sich nicht nur die Anonymität des Strichs, auch die Motive verdoppeln sich dann im Positiv und Negativ.
In jedem Blatt verdichtet sich die Fülle der dinglichen Welt zum enigmatischen Bilderrätsel, das wie ein magisches Zeichen oder eine Prophezeiung mehr zu meinen scheint, als sichtbar ist. Aber nicht nur das. Blatt für Blatt verschränken sich die Motive auch zu einer grafisch attraktiven und fragilen Bildlösung. So viel Schreckliches im Einzelnen dargestellt ist, es sieht am Ende immer gut aus.
Wie man sich zu dieser Fülle von Bildinformationen ins Verhältnis setzen kann, ist eines der Themen, die Heinz Emigholz in dieser Ausstellung mit unterschiedlichen Instrumenten anpackt. Da gibt es neben dem Zyklus der ausgebreiteten Zeichnungen auf Paletten gestapelte Bücher, in denen das alles abgedruckt ist. Die Paletten stehen auf einem Teppich, in den Abbildungen der Einbände seiner Notizbücher eingewebt sind. 200 von diesen kleinen, mit winzigen Schriftzeilen vollgeschrieben Heften, in denen auch kleine Bildchen kleben, sind in Vitrinen neben den Zeichnungen ausgestellt. Sie bezeugen über mehr als drei Jahrzehnte, wie sich gelebtes Leben, gedachte Gedanken, niedergeschriebene Erfahrungen nach und nach in den Bildwelten niederschlagen.
Dieser Prozess ist als uneinholbar ausgestellt, was sich in den drei filmischen Kapiteln noch einmal steigert, wenn sie die Notizhefte in sekundenschnellem Takt Seite für Seite aufschlagen oder von der dortigen Skizze zur späteren Zeichnung schneiden.
Ob im Film, in den Heften oder den Zeichnungen: In jedem Medium stellt sich das Gefühl ein, einerseits dem Denken im Kopf des Künstlers bei seinen mäandernden Bewegungen, weit ausgreifenden Exkursionen und virtuosen Spiralen zuschauen zu können, dies aber andererseits immer von außen zu sehen, nicht seine Gedanken zu denken, nicht seine Erfahrungen zu teilen. Beim Denken ist eben jeder allein. Letztendlich ist so eine endlose Erzählung über den Prozess von Verdinglichung des Subjektiven in der Kunst und von dessen Grenzen entstanden. Denn Leben und Erfahrung lassen sich nicht komprimieren und weitereichen wie ein Mikrochip, der im Hirn des Empfängers nun das ganze Programm des Senders abspielen würde. Aber die Arbeit an diesem Versuch einer so intimen Kommunikation und das Wissen von ihrer Vergeblichkeit wird selten so eloquent und elegant vermittelt wie in der Arbeit von Heinz Emigholz.
Seit mehr als dreißig Jahren arbeitet er an diesen Werkgruppen, die alle den Titel „Die Basis des Make-Up“ tragen. Der Titel geht auf das Handbuch eines amerikanischen Maskenbildners zurück, auf dessen Umschlag ein nackter Schädel zu sehen war. Der rahmt jetzt wiederum Emigholz’ dickes Bildbuch im Positiv und Negativ. Das macht aus der ganzen Sache auch eine zeitgenössische Fortsetzung eines barocken Memento mori.
Dieser Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens steht in den Bildern selbst eine ausgeprägte Lust am Spiel mit futuristischen Signalen entgegen. Überall werden irgendwelche technischen oder wissenschaftlichen Versuche gestartet und der Mensch in ein kompliziertes Trainingsprogramm verwickelt. An einen Science-Fiction-Comic, voller Abstrusitäten und Merkwürdigkeiten, erinnern Emigholz’ Zeichnungen eben auch.
Der Film, der die lineare Erzählung verweigert und die Zeichnungen, die einen filmischen Fluss suggerieren, mit Motivüberblendungen und mit vielen möglichen Anschlüssen arbeiten – Heinz Emigholz ist ziemlich erfolgreich darin, die vorgefertigten Regeln eines jeden Mediums zu unterlaufen und sich Kategorisierungen zu entziehen. Schwer zu verstehen sind seine Arbeiten eigentlich nicht; allein, dass sie zwischen Kino und Bildergalerie an einem nicht genau zu bestimmenden Ort schweben, erzeugt den Eindruck des Komplizierten.
Im Werkraum Hamburger Bahnhof, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa + So 11–18 Uhr, bis 24. Februar 2008