: Mama und Mick
HIPPIE Wie konnte er? Er gab ihr das Armkettchen zurück, in dem ihr Name eingraviert war, und verschwand
VON ANNABELLE SEUBERT
Beide sind 17 – „waren wir da 17?“ –, als sie sich sehen, das erste Mal. Ihre Augen brennen vom Rauch und auf der Bühne spielen die Jets. Sie steht im Minirock unter Girlanden – die Tante hat ihn genäht. Extra für Fasching, das Schnittmuster aus der Burda. Rote Streifen auf weißem Filz, Sterne auf blauem Grund. Ihr Rock: das Sternenbanner mit Reißverschluss.
Dauernd wird sie angerempelt von Leuten, so voll ist es, aber sie findet das gut. Alles gehört so: Der Schweiß, der vom Rauch verdünnt in der Halle hängt. Die Lichterketten an der Bar, wo die Jugendlichen erwachsen tun, Martini oder Puschkin mit eingelegter Kirsche trinken. Es ist der 8. Februar 1969 und die Jets übertönen viele Sätze, die ihre beste Freundin Johanna sagt – sie trägt die Kubaflagge als Rock.
Johanna zwängt sich zwischen den Leuten durch, sie quetscht, schiebt, und dann ruft sie: „Da ist er ja“, laut und aufgeregt – das geht nicht unter. Jenen Satz gibt es noch jetzt, wenn sie, meine Mutter, in der Küche sitzt, in der die Welt in voller Ordnung ist. Die Welt hat da einen Boden und ist gekachelt.
Er, das ist Papa. Sie nennen ihn Mick, weil er gern Mick Jagger wäre und in einer Band singt. Mama fällt sein Strohhut auf. Wie ein Gondoliere in Venedig, denkt sie und sieht die Borte – „aus Chiffon, fliederfarben“, sie reicht ihm bis zu den Schultern.
„Ich hab gedacht: Die ist toll“, sagt Papa. „Zierlich. Eloquent.“ Er lehnt, wo er in der Küche meistens lehnt, vor der Kaffeemaschine, die allein er versteht.
„Wobei“, sagt er, „sonderlich viel hat man damals nicht geredet.“ Sein Kaffee ist tiefschwarz und wird nie mit Milch getrunken, sondern mit Sahne. „Nee“, sagt Mama. „Geredet wurde Formelles.“ – „Wie geht’s denn so?“ – „Bist schon lange hier?“
„Rumgeknutscht haben wir aber an ’nem anderen Abend.“ – „Quatsch, gleich danach.“ – „Was?“, fragt er. – „Klar“, sagt sie. „Ich dachte, das macht man so.“
Sie tanzen zu Schnulzen bei gedimmtem Licht. Gerade noch läuft „Aber Dich gibt’s nur einmal für mich“. Und dann, 1969, rast das Jahr. Mick und Mama. Im Sommer hocken sie in der Eisdiele und sonnen sich im Freibad. Im Herbst spazieren sie durch den Wald, sind draußen und unterwegs, weil Mamas Mama zu Hause ständig im Türrahmen auftaucht, ohne anzuklopfen. „Wollt nur mal schauen, ob noch was gebraucht wird?“ Zu Papa können sie nicht, weil seine Mutter findet, er ist zu jung für ein Mädchen. Sie treffen sich trotzdem, immer am Sonntag: Nach der Kirche steigt Papa im Anzug in den Zug, zwanzig Kilometer an Äckern vorbei, über Grünsfeld, Gerlachsheim. Im gestärkten Hemd kommt er im Dorf an, geht die Schillerstraße hoch, klingelt, fiebert, gleich redet Mama mehr als er.
Einmal, um Mitternacht, verpasst Papa den letzten Zug nach Würzburg und läuft zurück.
Und einmal, am Abend im November, kommen sie gerade aus Würzburg, als er, „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“, Mama plötzlich das Armkettchen wiedergibt, auf dem ihr Name steht. Sie sieht, wie er den Verschluss öffnet, das Kettchen über die Finger rollt und in ihre Handfläche legt. Er sagt, „das brauch ich nicht mehr“ und springt aus dem Zug. „Gewunken hat er noch.“ Dann ist er weg. Verschwunden.
Mama denkt nicht Arschloch, als sie durch die Dunkelheit fährt, Grünsfeld, Gerlachsheim. Es zieht ein bisschen in ihrem Bauch, aber sie hält das Kettchen in der Hand und denkt statt Arschloch lieber, dass in sieben Tagen wieder Sonntag ist. Sonntag, Sonntag. Da kommt er schon, da kommt er immer.
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Was dann bei Mama passiert: Sie verzieht sich in ihr Zimmer und tut, als würde sie lernen; Sonntage kommen und gehen. Die Mutter sagt: „Gell, der Mick kommt nimmer?“ Von allen Liedern hasst Mama am meisten: „Aber Dich gibt’s nur einmal für mich“. Beim Kegeln trifft sie einen, der sagt: „Der Mick war ein gut aussehender Bursche.“ Er wird ihr Tröster. Ihr Platzhalter. Sie denkt jetzt doch auch Arschloch, zieht weg und studiert.
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Was dann bei Papa passiert: Er lässt sich die Haare wachsen, dreht sich Joints, nimmt die dreihundert Mark von seinem Konto und trampt mit Horst nach Südfrankreich, weil in Fréjus bei einem Festival Pink Floyd und die Small Faces auftreten. Beim Festival in Fréjus trifft er ein paar Jungs aus Dortmund, die ihm sagen, dass das Festival ausfällt. Mit den Dortmundern lungert er dann in Saint-Tropez, als sie ein Typ anspricht: Ob er was von ihrem Gras abhaben kann? Der Typ sagt wohl: „Yeah, we are the Mungo Jerrys.“ Papa und die aus Dortmund lassen sich von den Bandmitgliedern die Personalausweise signieren, legen sich gemeinsam an deren Hotelpool und kiffen. Im Meer trifft Papa Annick, eine Französin, und findet sie nett. Er trifft sich mal mit ihr. Er trifft sich noch mal mit ihr. Er kehrt mit zwei Mark zurück und vergisst seinen Rucksack im Auto der Fahrerin, die ihn mitgenommen hat.
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Als wieder November ist, 1970 diesmal, besucht der Tröster Mama in ihrem Studentenheim. Er hält den Kopf übers Waschbecken: „Wäschst du mir die Haare?“ Mama sieht seinen Nacken, die Sommersprossen. Jede einzelne scheint fremd. „Ich will nicht“, erklärt sie ihm, „geh weg.“
Doch der Tröster tröstet sich, „Silvester gehen wir aus“, sagt er im Dezember. Er käme mit dem Auto seiner Eltern. „Zwanzig Uhr.“
Mama sitzt an Silvester mit der Familie auf der Eckbank, es gibt gerade Brote, als das Telefon schellt. Ist doch erst achtzehn Uhr. Ihr Bruder schlappt ins Nebenzimmer. „Die ist da“, hört sie ihn drüben sagen. „Ich hol sie.“ Mama schätzt, der Tröster kriegt wahrscheinlich jetzt doch nicht das Auto der Eltern.
Aber der Bruder sagt: „Für dich, der Mick.“
Einfach so, die Familie tratscht weiter, während Mama doch rennt und flattert und glaubt, irgendwas müsse jetzt schlagen, krachen, glänzen, bäm, Silvester, Böller und Raketen, sie schwört, sie kann das alles schon hören.
„Ja?“
„Hallo.“
„Hallo.“
Dann fehlt nicht mehr viel. Papa sagt: „Ich komm jetzt“, drei Worte, sie wissen es genau. Der Rest ist Geschichte.