Diese Brücke trägt nicht

KUNSTGESCHICHTE „Künstler und Propheten“, eine Ausstellung in Frankfurt, behauptet einen substanziellen Zusammenhang zwischen falschen Gurus und echter Kunst

Da ist durchaus etwas an utopischen Bewegungen, ein patriarchaler Wahn, der einen stutzig macht

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Die Ausstellungen der Frankfurter Schirn bilden immer eine Waage: Was im einen Flügel des Baus eingerichtet wird, bekommt sein Gegengewicht im anderen. Seit Anfang Februar zeigt „Poesie der Großstadt – Die Affichisten“ eine hoch individualisierte Metropolenkunst, Künstler nämlich, die in den fünfziger Jahren Plakatwände aufschnitten, abrissen, als Kunst ausstellten oder neu collagierten, ein Pariser Phänomen mit einer merkwürdigen Parallele in Rom. Im März ist nun „Künstler und Propheten“ dazugekommen, sozusagen das Landei-Kleinstadt-Pendant, denn die meist christlich angehauchten Künder seit Karl Wilhelm Diefenbach haben sich in den Metropolen nicht wirklich durchsetzen können. Im Gegenteil, das Siedeln an den Peripherien ist ihr deutlichstes Merkmal, und zwar in der zweiten Phase ihres Auftretens. Die erste Phase galt immer dem Versuch, Anhänger zu werben.

Auf dem Plakat der Ausstellung ist das „und“ fast unsichtbar gehalten, so dass man glaubt, es mit „Künstlern/Propheten“ zu tun zu haben. Genau daran hat Kuratorin Pamela Kort gearbeitet, den Abstand zu verringern und vielleicht sogar zum Verschwinden zu bringen. Dabei waren die falschen Christusse und Kohlrabi-Apostel der deutschen Inflationszeit keineswegs alle Künstler, sondern im Gegenteil, ein höchst merkwürdiges Hybrid aus Künder, Gaukler, Gesellschaftskritiker und Wichtigtuer. Auch von einer „geheimen Geschichte der Moderne“, wie der Untertitel der Ausstellung verspricht, kann nicht die Rede sein. Den Selbstwiderspruch in Kauf nehmend, stellte nämlich Kort zur Eröffnung gleich mal richtig: die selbst ernannten Propheten seien, zur jeweiligen Zeit ihres Wirkens, außerordentlich sichtbar gewesen, ja gewissermaßen jedermann bekannt. Nanu!

Wie alle kunst- und kulturhistorischen Ausstellungen der Schirn ist auch diese subtil atmosphärisch, labyrinthisch und kleinteilig, mit einem Hang zur Ephemera-Vitrine; es lohnt, die Lesebrille dabeizuhaben, und sei es, um aberwitzige Gurupostkarten von 1923 zu bestaunen. Je enger das räumliche Layout, desto größer wirken die Werke, sodass Frantizek Kupkas und Egon Schieles wohnzimmertaugliche Formate schon richtig Eindruck machen. Was aber auf den zweiten Blick nichts mit Größe und Farbe zu tun hat, sondern mit Sujet und Technik: Diese sind bei weitem die fähigsten Maler dieser Ausstellung, obwohl die entzückend gestückelten Reliefs – Nachkriegsarbeiten des sehr jungen Friedensreich Hundertwasser – auch sehr viel gewissenhafter rüberkommen, als was man von dessen späteren Kritzelhöhlen auf Postern so kennt.

Die Erstellung des Katalogs hat die in Berlin wohnende und in Zürich lehrende Kuratorin – sie gehört nicht zum Team der Schirn – ganz an sich gezogen. Ein konzises Vorwort, dann startet Kuratorin Kort in eine flächen- und raumgreifende Sozialgeschichte, die in Porträts ihrer Akteure aufgeteilt ist, eines nach dem anderen. Ihr großer Vorteil ist dabei ihre Unbefangenheit oder anders gesagt die Abwesenheit von Ideologie oder moralischem Diktat.

Mit Vollbart und Kutte

Es gibt bei den selbst ernannten Propheten absolute Konkurrenzen und ansatzweise auch Dynastien. So wird Hugo Höppener zweifelsohne zum „Fidus“ des Diefenbach, dem Urgestein der Künstlerpropheten, und unter dem Namen Fidus später ein äußerst findiger Illustrator sämtlicher Vereinsschriften von Lebensreform über Theosophie bis Okkultismus. Im Prinzip aber bleibt jeder, der einmal mit Vollbart und Kutte aufgetreten ist, am Ende allein. Um so wichtiger erscheint jeweils das Jahrzehnt der größten Entfaltung und umfassenden Intervention, und hier taucht Kort tief ein in das Geflecht von Wanderbewegung, Briefverkehr, Plakatpropaganda, Pressegetrommel und Privatphilosophie.

Doch muss man wirklich wissen, in welchen thüringischen Kleinstädten exakt eine „Neue Schar“ die Menschen zum Reigentanz brachte und wo genau die nächste utopische Siedlung scheiterte und wer welchem Herausgeber Ergebenheitsadressen schrieb? Je mehr man liest über Gustaf Nagel, Gusto Gräser, Ludwig Christian Haeusser, Friedrich Muck-Lamberty, deren Anhänger und Feinde, Jünger und Geliebte, zeitweisen Wegbegleiter und für immer Enttäuschte: Desto undurchdringlicher erscheint das soziale Dickicht, das seelische Gestrüpp, der ideengeschichtliche Kern.

Nicht, dass diese Ausstellung ohne Erkenntnisinteresse konzipiert worden sei. Im Gegenteil, und hier kommt das „Geheime“ der Geschichte ins Spiel. Die These besagt, dass die Künder und Propheten der Zwischenkriegszeit archetypische Modelle geprägt hätten, die wirksam gewesen wären bis in die Moderne. Gemeint ist also ein Paradox: die Moderne habe eine Unterströmung, die gänzlich unmodern sei. Aber was sagen letztlich einige kultische und christliche Kreuze im Frühwerk von Joseph Beuys? Was verbindet diesen mit der Naturfantasterei eines knapp vom Holocaust Verschonten namens Friedrich Stowasser, der sich als Künstler Friedensreich Hundertwasser nennt? Und Jörg Immendorffs Selbstinszenierung mit „Ich-Stab“ in Düsseldorf: Ist das nicht eine reine Parodie auf alle Kreuz- und Stabträger, seinen hochgeschätzten Professor mit Hut und Anglerjacke eingeschlossen?

Der Brückenbau trägt nicht: Auf der einen Seite all die ausgetickten Selbstpromoter in Kutten, davon einige ohne künstlerisches Werk und weitere ohne künstlerische Substanz – auf der anderen Seite hoch reflektierte, formbewusste Künstler wie Schiele und Beuys. Nicht, dass es nicht irgendeine Verbindung gäbe, aber die gibt es immer. Entscheidend ist, dass sich Pamela Kort nicht den sozialen Bewegungen der 20er Jahre zuwendet, ihrer kollektiven Dynamik und ihrem sozialen Gewinn: Vegetarismus, Wandervogel, Reformpädagogik, Ausdruckstanz und Nacktkultur. Fragt man nach diesen unglaublichen Neuerungen und verfolgt, wie all das von den Nazis kaputtgemacht wurde, kann man nur staunen, was alles nach 1945 möglich war, wenn auch mit einer Tauwetterperiode von mehr als zwanzig Jahren.

Immer wieder wird hier angedeutet, dass die Künstlerpropheten einen (selbstverständlich bisher übersehenen) erheblichen Einfluss auf die Kunst der Moderne ausgeübt hätten. Einmal ist von Fidus die Rede, dessen berühmteres Werk die Verzückung des nackten Leibs in der gespürten Gegenwart des Kosmos zeigt. In der Tat nicht weniger überzeugend als später die silberstrahlenden Knaben von Pierre & Gilles: also Kitsch allerersten Ranges. Aber Fidus entwarf auch bizarre Tempel für dunkle Kulte, schauerliche Hybride von Hindu- und Fin-de-siècle-Pomp. Für eine Ausstellung utopischer Architekturentwürfe bot er Walter Gropius diverse Werke an, von denen dieser schließlich drei kleine Formate ausstellte, die aber in sämtlichen Rezensionen der Ausstellung unerwähnt blieben. Später bewarb sich Fidus am Bauhaus um eine Stelle, wurde aber nicht genommen. Schöne Anekdötchen! Aber wo ist der Einfluss von Fidus auf Gropius? Da ist keiner.

Prophet als Superstar

Rafft man das Volksführerphänomen zusammen, ohne den Wahnsinnskoeffizienten zu berechnen, könnte es nicht doch sein, dass irgendetwas davon angekommen ist in der Kunstwelt? Ein smarter Illustrator vielleicht, der plötzlich auf Painter macht, sich in einer Fabrik einnistet, die Wände auf silbern dekoriert und jedem, der mitmacht, verspricht, ein Superstar zu werden?

Aber nein, Andy Warhol ist in „Künstler und Propheten“ noch nicht einmal im Namensregister verzeichnet. Okay, probieren wir es mit diesem: Ein Wiener Kommunegründer, der einen ganzen Anhängerclan verleitet, Psychobekenntnisse auszuagieren, brüllend und weinend. Gemaltes hier und Happenings dort. Rigide Herrschaft mit Lieblingen, Unterlieblingen, mit Bittstellern auf der Schwelle und unbegrenzten sexuellen Privilegien für den Meister. Der alte Trick von früher: Die Kommune wird ein Handwerksimperium. Die Leute bringen richtig Geld rein. Das Projekt gelingt, macht Furore, kann seinen Kunststatus verifizieren. Später die Mädchen in zweiter Kommunegeneration, die dem Meister zum Erstgenuss zugeführt werden. Ein Paradies des Irrsinns, begonnen bei Wien, ausgedehnt bis nach Portugal. Und dann?

Will man die Geschichte der Selbstermächtigung in der Community weiterschreiben bis in die 1970er Jahre, kommt man um Otto Mühl nicht herum. Mit ihm endet die Geschichte, wenn man sie als Geschichte der Selbsterhöhung liest. Aber wie Warhol kommt auch Otto Mühl im Namensregister nicht einmal vor.

Die Ausstellung, im ersten Saal, bringt spektakulärerweise einen gemalten Fries aus Wien, in dem Dutzende nackter Kinderchen in einem irren Reigen, von etwas Unwiderstehlichen in ihrer Zukunft magisch angezogen, mit diversen Gerätschaften, in Gesellschaft und auf dem Rücken von Tieren, schließlich bei einem kultischen Tempel ankommen, über dem schon bedeutungsvoll die Opferschale raucht. Es ist das Paradewerk des Karl Wilhelm Diefenbach, geholfen im Finish hat ihm Fidus, und die Szenenfolge (1892) entbehrt nicht einer gewissen wilden Magie. Aber was ist mit der Imagination des Tempels, bewacht von einer Sphinx? Wer ist der Oberpriester? Und was zieht die Kinder dorthin?

Da ist durchaus etwas an der Rückseite utopischer Bewegungen, ein patriarchaler Wahn, der einen stutzig macht. Man sollte das, wenn man irgend kann, benennen. „Künstler und Propheten“ verklärt durchgeknallte Christusgurus zu Präfigurationen sensibler Künstlerschaft. Das ist Irrsinn. Diese Ausstellung zeichnet den Diskurs der Sektierer nicht nach, sie sitzt ihm auf.

■ Bis 14. Juni, Schirn Kunsthalle, Frankfurt, Katalog (Snoeck Verlag, Köln) 38 und 58 Euro