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Archiv-Artikel

Ewiger Antiziganismus

Zum 65. Jahrestag des Auschwitz-Erlasses

VON GABRIELE GOETTLE

Ein Neugeborenes im Stall, gebettet auf Heu und auf Stroh, und ein bitterarmes Elternpaar an seiner Seite, das ist das Sinnbild christlicher Weihnacht … Wenn es einer rumänischen Zigeunerin in Rom passiert, dann stehen draußen vor der Tür keine Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben, sondern bewaffnete Karabinieri in schwarzer Kampfuniform oder Neonazi-Schlägertrupps mit Knüppeln.

In Italien, ist man sich von rechts bis links einig darin, einer aus Rumänien stammenden Zigeunerplage mit Notstandsmaßnahmen entgegentreten zu müssen. Nachdem ein rumänischer Bürger, ein Roma, eine römische Bürgerin überfallen, vergewaltigt und ermordet hat, werden überall in Italien Siedlungen, Wohnwagen und illegale Hütten rumänischer Zigeuner durchsucht und geräumt. Im Kielwasser dieser Bluttat ließen Behörden und Politiker ihren Ressentiments freien Lauf.

Es ist wirklich erstaunlich, wie umstandslos in solchen Momenten jede Political Correctness beiseite gelassen und als leeres Gerede kenntlich gemacht wird. Jetzt werden offene Worte gesprochen, der Auftakt zur Pogromstimmung gegen jedwede Zigeuner, seien sie nun italienische Staatsbürger oder aus Osteuropa. Das Kabinett in Rom beschloss in einer Sondersitzung ein sofort wirksames Gesetzesdekret, das die umstandslose Ausweisung nicht nur krimineller EU-Bürger erlaubt, sondern auch die Ausweisung solcher EU-Bürger, in denen die Behörden eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ vermuten. Es ist belanglos, ob sie sich etwas zu Schulden kommen ließen oder nicht. Der Bürgermeister von Rom: „Europa kann nicht bedeuten, dass Rumänien einfach die Schleusen öffnet.“

Die Ereignisse in Italien fallen fast mit dem 65. Jahrestag des sogenannten Auschwitz-Erlasses zusammen.

Auf Befehl des Reichsführers SS vom 16. 12. 1942 – Tgb. Nr. 12652/42 Ad/RF/V – sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen.

Das bedeutete Verhaftung und Internierung aller europäischen Zigeuner in Sammellagern, Schaffung eines „Zigeuner-Familienlagers“ in Auschwitz, weitere Deportationen in dieses Lager, einem eigenen Komplex innerhalb des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

Die „Regelung der Zigeunerfrage“ war den Nazis von Beginn an wichtig, ihre rassehygienischen Untersuchungen und Forschungen hatten ein einziges Ziel: Erfassung, Absonderung und Ausschluss „artfremden Blutes“ aus der sogenannten Volksgemeinschaft und letzten Endes Vernichtung. Zigeuner wurden ebenso wie die „Erbkranken“ Opfer von Zwangssterilisationen. Ebenso wie die Juden fielen sie unter die Nürnberger Gesetze, ebenso wie die Juden trafen sie harte Einschränkungen und Berufsverbote und auch solche Absurditäten wie der Zwang zur Entrichtung der „Rassensondersteuer“ bei der Lohnsteuer. Ab 1938 gab es Einweisungen in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald und später auch Mauthausen. Am 16. 10. 1939 wird vom „Sicherheitsdienst-Donau“ mitgeteilt, dass an den ersten, am 20. Oktober 1939 von Wien abgehenden „Judentransport“ auch noch drei bis vier Waggons Zigeuner angehängt werden können.

Die systematische Ermordung von Zigeunern begann im Sommer 1941, beim Überfall auf die Sowjetunion. Zu Tausenden fielen sie den Massenerschießungen der SS-Sondereinsatztruppen – unterstützt durch Wehrmachtseinheiten – zum Opfer. Zigeuner wurden ebenso wie die Juden interniert bis zum Weitertransport nach Auschwitz. Im Ghetto Łódź wurde 1941 ein streng abgeriegeltes Zigeunerlager eingerichtet und unter schlechtesten Bedingungen belegt. 1942 wurden die 5.000 Überlebenden im Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof) in stationären Vergasungswagen ermordet.

Danach wurden die Zigeuner in Massen nach Auschwitz-Birkenau gebracht, wo sie durch Arbeit, Hunger und Krankheiten systematisch vernichtet wurden. Im Februar 1943 treffen die ersten Familien aus dem Reichsgebiet ein, 828 Personen, Männer, Frauen, Kinder, sie werden mit der Häftlingsnummernserie „Z-“ tätowiert. Die Zigeuner werden Selektionen unterworfen und insbesondere auch den medizinischen Menschenversuchen des Dr. Mengele. Das Zigeunerlager hat die höchste Todesrate in Auschwitz. Am 2. August 1944 wird das Lager aufgelöst. Von den noch lebenden Menschen werden 1.408 in andere Lager gebraucht. Nach dem Abendappell, so steht es im „Gedenkbuch der Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“ verzeichnet, wird im Zigeunerlager Lagersperre angeordnet. Am selben Abend werden die noch im Zigeunerlager verbliebenen 2.897 Menschen mit Lkws zu den Gaskammern des Krematoriums V gebracht und dort vergast. Ihre Leichen wurden in den Gruben beim Krematorium verbrannt.

Die Zahl der in Europa bis zum Kriegsende in Konzentrationslagern und durch die Einsatzgruppen der SS ermordeten Zigeuner wird auf eine halbe Million geschätzt. Die Überlebenden waren auch nach dem Krieg von elenden Lebensbedingungen und den eingefleischten Vorurteilen betroffen. Der Völkermord an den Zigeunern drang erst durch die Initiativen von Roma-Organisationen allmählich ins deutsche Bewusstsein. Das hat sich aber nicht in großzügigen Regelungen zur „Wiedergutmachungszahlung“ für die Überlebenden niedergeschlagen, sondern in einer zähen Verschleppung.

Unvergesslich ist mir die kochende Volksseele in Rostock gegen die wegen Überfüllung der Aufnahmestellen im Freien campierenden rumänischen Zigeunerfamilien. Das war Pogromstimmung im wiedervereinigten Deutschland. Gerade die rumänischen Zigeuner sind in besonderer Weise geplagt worden. Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu schrieb im November in der Neuen Zürcher Zeitung:

„Vielleicht sollte man sich von Zeit zu Zeit die historischen Wurzeln des Problems vergegenwärtigen. Die Rumänen in der Walachei und der Moldau machten sich – als Einzige in Europa – Zigeuner zu Sklaven, mit fester Bindung an den Boden. So wurden die Zigeuner – herausgerissen aus ihrem natürlichen Nomadendasein – auf den Gütern ihrer Besitzer zwangsweise sesshaft. Aus Menschen im Stand der Freiheit wurden auch hier wie im Falle der schwarzen Sklaven Amerikas sprachbegabte Arbeitstiere.

Über einige Jahrhunderte hinweg konnten sie gekauft und verkauft werden, Familien wurden auseinandergerissen, die Kinder von den Müttern, die Frauen von ihren Männern getrennt, die jungen Frauen in aller Regel von den Besitzern vergewaltigt […]

Der Gnadenstoß, den wir dieser uralten Bevölkerung gaben, war paradoxerweise die Befreiung der Zigeuner von ihrem Sklaventum im Zuge des 1848er Enthusiasmus, von dem die neue, prowestliche rumänische Elite des 19. Jahrhunderts erfasst war. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass Menschenfreundlichkeit in schreckliche Katastrophen führte. Man rief die Zigeunersklaven vor die Gutshäuser hunderter aufgeklärter Bojaren, um ihnen kundzutun: ‚Brüder, ab nun seid ihr frei! Geht, wohin euch die Schritte tragen.‘ […] Hunderttausende Zigeuner waren plötzlich frei, Hungers zu sterben.“

Ganz ähnlich erging es ihnen nach dem Niedergang des Kommunismus. Denn wie 1956 in der UdSSR der Oberste Sowjet ein „Verbot der Nomadenlebensweise“ erlassen hat, gab es auch in den anderen sozialistischen Ländern Direktiven zur Assimilierung und Sesshaftmachung der Zigeuner, gab es Zwangsum- und -ansiedlungen in den Industriegebieten, Sanktionen und Repressalien und Arbeitspflicht als Hilfsarbeiter mit meist körperlich schwerer Arbeit. Der Kommunismus nahm den Zigeunern die Geige und gab ihnen Hammer und Sichel in die Hand, sagt ein Spruch. Heraus kam ein entwurzeltes Arbeitsleben. Die Chance war vertan, ihnen eine Art Nationalitätenstatus zuzuerkennen, nicht nur Schulpflicht und Ausbildung anzuordnen, sondern ihnen auch die Pflege ihrer kulturellen und familiären Traditionen, ihrer Handwerke, Sprachen, Musik, Sitten und Familien zuzubilligen. „ZIGEUNER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH!“ lautete 1926 ein Aufruf der Moskauer Allrussischen Zigeunerunion. Aber es war nur Rhetorik (E. E. Kisch hat in einer seiner Reportagen „Zaren, Popen, Bolschewiken“ davon erzählt – sie wurde übrigens nicht in die sechsbändige Kisch-Ausgabe aufgenommen, die der Aufbau-Verlag 1954 herausgab). Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Entindustrialisierung, Entkollektivierung, dem massenhaften Verschwinden von städtischen und landwirtschaftlichen Betrieben, waren die Zigeuner quasi frei und Herren ihres Schicksals, sie durften als Nichtsesshafte wieder ihrer Wege gehen, geradewegs ins Verderben. Viel hatten sie nicht mehr in den Händen, Geige und Improvisationstalent mussten erst wieder erlernt werden. Und auch das Fortwandern nach dem Öffnen der Grenzen, das Bettelngehen ganzer Familien in der Fremde.

Eigentlich unterscheidet sich die Zigeunerpolitik der sozialistischen Länder kaum von der in den kapitalistischen Ländern. Es soll immer herumerzogen werden wie an unmündigen Kindern. Pädagogik und Zwang, Ordnung und Sauberkeit, Disziplin und Unterordnung, erst wenn das sitzt, gibt es Anerkennung. In der DDR gab es seit 1950 eine Regelung für die Anerkennung als „Verfolgte des Faschismus“, berücksichtigt wurden nur solche Zigeuner, die nachweisen konnten, dass sie aus rassischen Gründen im KZ waren und nicht wegen „Arbeitsscheu“ und asozialem Lebenswandel. Zudem wurde eine Entschädigungszahlung abhängig gemacht von dem Nachweis, dass der Antragsteller seit 1945 beim Arbeitsamt registriert war. Reimar Gilsenbach, ein DDR-Schriftsteller, hat verdienstvollerweise viel Material zusammengetragen über die Lage der Zigeuner in der DDR (leider ist er mitten in seinem großen Projekt „Weltchronik der Zigeuner“ gestorben, nur ein Teil konnte noch erscheinen).

Die Abgebildeten sind Zigeuner aus Rumänien. Wir lernten sie Anfang der 90er-Jahre kennen. Sie bildeten so eine Art avantgardistische Vorhut, denn sie hatten ihre Alten in einem entlegenen Dorf zurückgelassen und mit ihren Frauen und Kindern den Weg bis nach Szczecin (Stettin) geschafft. Weit außerhalb der Stadt hatten sie sich am Rande einer riesigen Müllkippe provisorische Unterkünfte gebaut. Aus Angst vor Vertreibung und Diebstahl trugen sie ihre sämtliche Habe in große Tücher geknüpft stets bei sich. Tagsüber arbeiteten sie als damals noch stillschweigend von Geschäftsleuten und Polizisten geduldete Bettler. Nachmittags machten sie sich hoch bepackt auf den weiten Rückweg. Nahrung und ausreichende Mengen Trinkwasser mussten sie auch noch mit sich führen. Abends bereiteten sie sich ihr Essen auf einem wunderbaren selbst erfundenen Ofen zu, einer Waschmaschinentrommel. Sie erlaubten uns, ein kleines Weilchen bei ihnen zu bleiben. Sie waren überaus freundlich und liebenswürdig. Sie waren sehr liebevoll zu den Kindern, streichelten und berührten sie oft, sie rauchten viel und gerne und waren eigentlich guter Hoffnung, dass sich ihre Lage mehr und mehr bessern würde. Der Bulibascha schrieb uns zum Abschied seine Adresse auf und lud uns ein in sein Heimatdorf. Aber wir kamen nie bis zu den Karpaten, leider.

Seit der Osterweiterung der EU sind die Zigeuner mit etwa zwölf Millionen die größte Minorität in Europa. Zugleich sind sie die am meisten von Diskriminierung, Verfolgung und Benachteiligung betroffene Gruppe. Ihr Einfluss ist äußerst gering, besonders in Osteuropa, wo sie ausgegrenzt und ihre Kinder in Sonderschulen deponiert werden, in der Regel. Zwar ist Romanes, die Sprache der Zigeuner, von EU und OSZE als offizielle Amtssprache anerkannt, das ist aber nicht mehr als eine symbolische Geste.

Was ich noch anmerken möchte:

Ich verwende die Bezeichnung Zigeuner, wie unschwer zu erkennen ist, nicht pejorativ. Dass politisch korrekte Menschen Sinti und Roma sagen und weihevoll hinzufügen, „Rom“ bedeute Mensch, ist bekannt. Dass aber „Rom“ in Romanes oder Romani čhib nicht Mensch bedeutet, sondern Mann, den Gatten, den Zigeuner meint, ist vielleicht weniger bekannt. Mensch und Zigeuner heißt in Romanes „Manusch“, die weibliche Form ist „Manuschni“. Das nur für die pädagogisch Beseelten, die immer zugleich auch wissen, was gut und richtig ist für die Zigeuner, was sie zu Unseresgleichen macht, damit wir sie nicht mehr so fürchten, verfolgen und verachten müssen.

Was ich noch unbedingt fragen möchte:

Weshalb eigentlich werden Zigeuner derart missachtet?

Zigeuner haben in ihrer mehr als sechshundertjährigen Anwesenheit in Europa nie ein Land erobert, nie einen Krieg geführt, nie einen Staat gegründet.

Selbst ein alle Verschiedenheiten übergreifendes Selbstverständnis als Volk oder Nation ist den meisten nicht so besonders wichtig.

Sie beuten weder die Rohstoffe noch die Fischgründe unserer Erde aus.

Sie emittieren nicht all die Schadstoffe, die pro Kopf anfallen.

Sie fliehen vor dem Militärdienst. Sie verachten die Lohnarbeit.

Die Mehrzahl der Zigeuner lebt jenseits von Börsen, Bilanzen und Renditen.

Sie scheinen es nie zu lernen, immer nur nach dem Mehrwert zu schielen.

Ist es das?