BLICK INS BRANCHENBUCH

■ Eine Rezension der wichtigsten Neuerscheinung auf dem Buchmarkt

Ein letztes Mal noch schauen wir auf die drei Bücher, die im vergangenen Jahr von ungeduldigen Händen so oft bekritzelt worden sind. Es fällt beinahe schwer, sich jetzt von ihnen zu trennen. Kaum hatte das viele Blättern sie weich und griffig gemacht, da sollten sie schon wieder zugunsten neuer und steifer Exemplare ausgetauscht werden, die beiden Telefonbücher und das Branchenbuch des Ortsnetzes Berlin -West.

Vorm Postgebäude, in dem die neuen Ausgaben bereit liegen, häufen sich in Containern die alten. Wir werden die Stapel gleich noch höher machen. Von überall her kommen Leute mit dicken gelbkartonierten Büchern unterm Arm zur Sammelstelle oder verlassen mit frischen Exemplaren das Amt. Das wiederholt sich in jedem Frühjahr. Es ist, fast naturhaft, ein Zeichen stetigen Wechsels. Auch wir sind ein Teil davon; unser Name hat im Telefonbuch immer andere Nachbarn. Deshalb: Platz dem Neuen! Mit Schwung werden die gelben Schwarten, die auch manchmal als Zettelbeschwerer und Türstopper aushalfen und den Kindern zum Pressen von Pflanzen dienten, zu den anderen geworfen. Altpapier auf Altpapier. Bald werden wir die Neuerscheinungen in den Händen halten. Glatt und sauber, mit Seiten, die noch keiner geöffnet hat.

Auch diesmal sind sie wieder umfangreich geworden. Besonders das Branchenbuch ist mit seinen über 1.600 Seiten so schwer wie selten. Es ist fesselnd, in ihm zu lesen. Soviel Dienstleistungen bietet es an; soviel Dinge zählt es auf; soviel Berufe stellt es vor. Das Bild, das es vom lokalen Geschäftsleben gibt, ist optimistisch. Kämpfe um den Lohn, Konkurse und Arbeitslosigkeit sind ihm unbekannt. Und wenn es auch nicht die wahren Verhältnisse wiedergibt, es beeindruckt doch mit Beispielen, die den Reichtum der Arbeitsformen zeigen, und es deutet, mustert man es genauer, Indizien für deren Veränderungen an. Es zu studieren, ist wie eine perfekte Übung in Demografie.

Nehmen wir nur die elf engbedruckten Seiten mit den Namenskolonnen von Ärzten. Oder die der vielen hundert Psychologen, die in den letzten zwanzig Jahren ihr Fach zur Wachstumsbranche machten; oder die der etwa zweitausend Rechtsanwälte und Notare und der beinahe sovielen Architekten: Gibt es einen deutlicheren Beleg für das Überangebot dieser Berufe? Wieviele von denen werden jahrelang in schäbigen Praxisräumen und Büros sitzen, auf lohnende Fälle und Aufträge hoffen und sich mit Gutachten und Kleinkram über Wasser halten. Und wieviele dieser Namen werden bald aus den Rubriken wieder verschwinden und von anderen ersetzt. Die Namen: jeder offeriert dort eine Leistung, und wenn sein Träger Glück hat, dann ist er bekannt und erhält gegenüber den anderen den Vorzug. Das Branchenbuch ist der Musterkatalog eines Marktes, und wie auf einem Markt wird dort die Aufmerksamkeit der Kunden geworben. Deshalb werden Firmensignets, Namen und Adressen so oft halbfett oder fett gedruckt und umrandet. Jede Seite ist ein Feld, auf dem, je nach Investition des Inserenten, kleine, mittlere, große Grundstücke als privates Eigentum ausgewiesen sind. Jeder versucht aufzufallen, und Namen, die nicht hervorgehoben sind, werden im Kampf der Schriften erbarmungslos niedergedrückt. „Schwer zu zerstreuen ist die Meinung, daß man zur Negativätzung, zur fetteren Schrift, zur Schwärze in irgendeiner Form greifen müsse, wenn das Inserat auffallen soll. Da keiner leiser reden will als der Nachbar, schreien nun alle. Wünschbar ist aber, daß man nur mit Zimmerlautstärke rede, typografisch gesprochen: daß auf fast alle Halbfette verzichtet werde. Halbfette und fette Schriften in Menge sind guter Typografie ähnlich abträglich wie fette Speisen dem menschlichen Körper.“ Jan Tschichold, der das in seinem Buch „Erfreuliche Drucksachen durch gute Typografie“ schrieb, hätte am West-Berliner Branchenbuch keine Freude gehabt. Es enthält eine Fülle mißlungener Anzeigen, und die Eigenwerbung mancher Firmen kommt der Geschäftsschädigung nahe.

Aber wen kümmert's. Haben wir es selbst doch schon oft erlebt, daß, in eiliger Suche nach einem Schlüsseldienst, einem Service für Rohrreinigungen oder einer Werkstatt, die unseren Fernsehapparat repariert, wir die auffälligste Anzeige auswählten, und daß es uns wie ein Akt der Barmherzigkeit vorkam, wenn wir mal ein paar der kleingedruckten Namen anriefen. Aber wie sollte es anders sein, die Anzeigenwildnis ist ein getreues Abbild des Geschäftslebens, und in dem gilt: Wer nicht wirbt, stirbt. Da ist Zurückhaltung nicht gefragt. Ja, die dezente Gestaltung, wie Tschichold sie meint, macht sogar mißtrauisch, wenn sie in manchen Bereichen, dem Automarkt etwa, der zu den größten Branchen gehört, angewandt wird. Denn: Gediegenheit wirkt teuer.

Das herrschende Konkurrenzprinzip drückt sich aber nicht nur in der Typografie aus, es erscheint bisweilen auch in Geschäftssignets. Beispielsweise dem der Firma Busse und Sohn, Schneebeseitigung. Es zeigt, weiß auf schwarz, ein großes B, das von einer dünnen und einer dicken Figur flankiert wird. Während der Dicke, Vater Busse vermutlich, mit dem Initial des Betriebs verbunden ist, nähert sich der Dünne, Busse junior, mit weitem, besitzergreifendem Schritt und weist auf den Großbuchstaben. Ein Bild, bei dem man statt an die Dienstleistungen eher an einen Familienzwist denken muß. Andere erweitern den Begriff des Firmensignets um neue Varianten. Etwa die Fahrschule Eicher, die aus dem aufrecht gehenden Menschen ein gekrümmtes Wesen zu entwickeln verspricht, das dem Auto und dem Motorrad angepaßt ist. Eine Anzeige, die ähnlich drohenden Charakter hat wie die der Hauskrankenpflege von Marlies Küssner, die mit der Silhouette einer großen Spritze wirbt. Andere Firmen heischen mit den Porträts ihrer Gründer oder Leiter ums Vertrauen künftiger Kunden. Eine persönliche Ansprache, die besondere Sympathie wecken soll, aber das Gegenteil erreicht: in der Nachbarschaft der Warenzeichen und Schriftformeln wird das Floskelhafte dieser Bilder noch mehr betont.

Beim Blättern im Branchenbuch ist es wie beim Nachschauen im Lexikon. Man schweift gerne ab, denn überall findet sich etwas, das die Neugier weckt. Von den Billardsalons wechselt es sich leicht zu den Bimssteinen, von den Doppelböden aus werden die Dosiergeräte leicht erreicht, die Ernährungsberatungen führen zu den Essenzen und Essigfabriken und die Kammerjäger und die Kampfmittelräumer sind nur eine Spalte voneinander entfernt.

Einmal im Jahr werden diese Allianzen neu gemischt. Wem diese Änderungen nicht gleichgültig sind, der wird hin und wieder ohne Ziel ins Branchenbuch schauen. Das ist einfach. Es liegt in allen Telefonzellen, Postämtern und den meisten Wohnungen bereit. Es ist eine wichtige Ergänzung zum Stadtplan und es kann viele Stadtführer ersetzen.

Andreas Seltzer